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Fuori 03

Fuori dalle corde

Text: Pierre Lachat / 10. Mai 2008

Mit jenen verträumten Disziplinen, die auf Rennstrecke und Tummelfeld die Muskeln messen lassen, ist es nur entfernt zu vergleichen. Denn von den vielen Arten und Abarten des Schausports schleudert das Boxen die grellsten Effekte ins Publikum, um sie noch verstärkt über die Leinwand und durch die Tonsäulen zu jagen. Der Faustkampf ist um Jahrtausende älter als sämtliche Fairness-Illusionen, selbst wenn er inzwischen mit weichen Bandagen ausgetragen wird, und er ist wohl auch dauerhafter. Sein Protagonist verkörpert einen archetypischen Helden von Sagen und Novellen bis Stories, Skripts und Strips.

Aus den Seilen

Athlet, Soldat und Gladiator in einer Gestalt, erscheint der Boxer im Zwielicht und ist von Scheu umkreist. Er bildet die Kontrastfigur zu den ausgekotzten Pedaleuren und weiteren Sprintern, Stramplern und Bleifüssen, die unverdrossen, mit letzter Kraft um Zuspruch strahlen. Einzig und allein die Folklore des Boxens stellt den Sieger so dar, als wäre er ein Geschlagener, im wortwörtlichen Sinn. Ausserstande, die geballte Faust noch eigenhändig im Triumph zu erheben, ist er auf den Schiedsrichter angewiesen, der mit einer drastischen Gebärde nachhelfen muss. Sie will sichtlich den leidensseligen, schmerzensfrohen, halb verkrüppelt grinsenden Meister aller Klassen aus den infernalischen Abgründen herausreissen, in die er hat hinuntersteigen müssen, um seinen Widerpart, den feuerspeienden Drachen, zu erlegen.

Fuori 01

«I could have been somebody. I could have been a contender», näselt Marlon Brando 1954 in On the Waterfront und fügt hinzu: «Instead of a bum. That’s what I am.» Ein Herausforderer hätte er werden können, aber es ist nur gerade ein Strolch aus ihm geworden. So gut wie alle Filme zum Thema, bis jüngst zu Million Dollar Baby, der aus dem Helden eine Heldin macht, zeichnen den Profi-Prügler als hoffnungslosen Fall, geradezu als Todgeweihten. Fuori dalle corde schliesst sich an und tastet weiter.

Nichts geht, erzählerisch, ohne den sagenhaften Abstieg in die Unterwelt: in die Verkommenheit, in Schimpf und Schande, sogar in Formen regelrechter Kriminalität. Umkehr oder Tod sind die Endrunden, über die der Faustkämpfer noch gehen kann. Die gebrochene Nase muss unstillbar bluten, ehe er sie voll hat. Ausgezählt und bewusstlos hat er auf den Brettern zu liegen. Erst dann darf er sich vielleicht wieder erheben, um unter die Lebenden zurückzukehren. Aus den Seilen heisst der Film von Fulvio Bernasconi sehr treffend. Der Ring ist ein Ort, den es lieber früher als später hinter sich zu lassen gilt, und zwar fluchtartig: schneller als alle andern Pisten, auf denen es um die Wette geht.

Das Reich der Schatten

Mike, wie sie ihn nennen, steckt von Anfang an in der verkehrten Rolle fest. Impresarios, Schieber, Prozenthuber aller Risikostufen schätzen ihn als investitionswürdig ein, erwarten aber dementsprechend mehr als das Menschenmögliche, während er selbst die eigene Aggressionshemmung schon lange zu kennen, sogar heimlich zu kultivieren scheint. Und ohne rechte Freude am Blutvergiessen bis hin zum legalen Totschlag kommt in der Branche kein Kämpe vonstatten. Die Schwester, Anna, schwitzt und schuftet, um ihn vorwärts zu drängen. Sie kalkuliert aber Rückfluss, Entschuldung und Aufstieg ein.

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Der Wahlbruder, Duilio, sein durchgeknalltes anderes Ich, verdopt und verkokst, schleppt Mike in die unterste Kategorie sogenannt illegaler Partien hinab. In diesem Reich der Schatten schreiben Wetteinsatz samt Wucherzinsen und entsprechender Schiebung alle Regeln, stündlich neu wie an der Börse, und die Faust des Stärkeren, die Herrschaft des Schwindels, die Konvertibilität von Geld und Gewalt amtieren als oberste Instanz. Es sind oftmals Kämpfe, in denen der Gegner erst im letzten Moment aus dem Dunkel tritt, was Überraschungen im engsten Kreis zeitigt, denn es gibt nur ein paar wenige, die da ihre Haut zu Markte tragen, eingeschlossen in Käfigen oder leeren Schwimmbecken. Und alle Spekulation muss versuchen, wie denn anders, ihre Opfer ausweglos aufeinander loszuhetzen, getreu dem Prinzip des lachenden Dritten.

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Der Zufall spielt Schicksal

Um die Seile endgültig abzustreifen, hat Mike eine Art Überwindung seines eigenen Selbst zu erbringen. Er muss sich förmlich, mit letzter Energie, aus dem Ring heraus, freiboxen, weil’s längst um keine Punkte, Preise oder Titel mehr gehen kann, sondern allein noch um Leben und Tod. Der Zufall spielt Schicksal, was immerhin eine gewisse Chance offen lässt. Denn er ist absolut unbestechlich: entweder glücklich oder unglücklich, nichts Drittes ist möglich. Auf ihn lassen sich keinerlei Wetten schliessen, und jedwede Anteilgabe oder Vorteilnahme kann ihr Ziel nur verfehlen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2008 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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