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Als «zeitgenössische Fabel über die Familie» bezeichnet Ursula Meier ihr skurriles Epos über diese Schicksalsgemeinschaft, die – koste es, was es wolle – in ihrem Domizil bleiben will. Dabei wendet die Familie keine Mittel des Protests an – sondern lebt passiven Widerstand.

Text: Doris Senn / 01. Jan. 2009

Am Anfang war die Idylle: eine fünfköpfige Familie, deren Haus wenige Meter entfernt von einer verlassenen Autobahn steht – drum herum nichts als Felder und Wiesen, die golden im Spätsommer glühen. Die Mutter – ganz Familien- und Hausfrau – beschäftigt sich mit Wäschewaschen, Kochen und Radiohören, während der Vater allmorgendlich wegfährt und am Abend von irgendwoher wieder zurückkommt. Dann spielt die Familie eine Partie Landhockey auf dem Strassenpflaster, kabbelt sich im engen Bad oder quetscht sich auf das Sofa vor dem Haus, um fernzusehn.

Die grössere der beiden Töchter, Judith, verbringt die Tage im Bikini neben dem Swimmingpool bei ohrenbetäubender Hardrock-Musik. Die beiden jüngeren Geschwister, Marion und Julien, gehen noch zur Schule. Jeden Morgen werden sie vom Schulbus abgeholt, der für sie mitten in der Pampa haltmacht. Mitunter steht ebendort bei ihrer Rückkehr ihre Mutter mit einer neuen Sonnenbrille und wirkt, als würde sie in einem abstrusen Endzeitfilm die Ankunft von Ausserirdischen erwarten.

So vergeht der Alltag der Kleinfamilie in harmonischem Einerlei. Bis eines Nachts orange-gelbe Baumaschinen mit ihren blinkenden Lampen das Dunkel erleuchten, eine Schar von Arbeitern kurzerhand die Leitplanken erneuern, den schmuddeligen Fauteuil von der Fahrbahn in den Garten hieven – ebenso wie den Grill, die Satellitenschüssel und das Planschbecken. Am nächsten Tag finden Julien und seine Freunde ein Stück glänzend-schwarzen Teer, das sie wie einen Meteoriten herumreichen. Innerhalb weniger Stunden ziehen zwei frisch geteerte Bänder durch die Landschaft, und schon bald fährt das erste Auto am Haus vorbei, gefolgt von unzähligen weiteren. Die Autobahn ist zum Leben erwacht.

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Als «zeitgenössische Fabel über die Familie» bezeichnet Ursula Meier ihr skurriles Epos über diese Schicksalsgemeinschaft, die – koste es, was es wolle – in ihrem Domizil bleiben will. Dabei wendet die Familie keine Mittel des Protests an – sondern lebt passiven Widerstand: Zuerst ignoriert sie das Geschehen, passt sich dann den Gegebenheiten, so gut es geht, an, um sich schliesslich zunehmend gegen die Unbill von Lärm, Dreck und Gefahr buchstäblich zu verbarrikadieren. Treffend bezeichnet die Regisseurin ihren Film als «Umkehrung eines Roadmovie»: Nicht das Unterwegssein steht im Zentrum, sondern das vertraute Daheim, die Musse, das An-Ort-Verharren. Doch diese Antihaltung wächst sich bei Ferienbeginn erst recht zum Paradox aus: Während sich die Autos auf den Fahrbahnen stauen – ein Bild, das an Jean-Luc Godards Weekend erinnert, in dem dieser bereits in den Sechzigern den automobilen Fortbewegungsdrang persiflierte –, bestaunen die Wartenden neugierig das kuriose Familienleben, das sich wenige Meter vor ihnen entfaltet …

Ursula Meier gehört zu den vielversprechenden Regietalenten aus der Westschweiz und hat sich schon mit ihrem Kurzfilm Tous à table (2001) und dem von Arte produzierten, mehrfach ausgezeichneten Spielfilm Des épaules solides (2002) einen Namen gemacht. Beide Filme wurden für den Schweizer Filmpreis nominiert – und auch Home ist inzwischen bereits für den neu geschaffenen Prix Soleure der Solothurner Filmtage nominiert. Allen drei Werken gemeinsam ist das Kreisen um eine «Obsession», die sich am Ende gegen die Urheber selbst wendet. In Tous à table war es die Lösung einer Rätselfrage, welche die Tischgemeinschaft direkt ins Handgemenge führt. In Des épaules solides disziplinierte eine junge Sportlerin nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr ganzes Leben vor dem Hintergrund ihrer Ambitionen. In Home ist es eine Familie, die ihr kleines Paradies mit allen Mitteln zu bewahren sucht, auch wenn sie sich gleichzeitig damit ihr eigenes Gefängnis schafft. In allen ihren Filmen zeigt die Regisseurin eine starke Autorenhandschrift, die nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit liegt, eine an sich unspektakuläre Geschichte zu stimmigem Leben zu erwecken – und mag sie noch so bizarre Formen annehmen.

Home 04

Für die belgisch-schweizerische Koproduktion Home, die in Cannes im Rahmen der Semaine de la Critique gezeigt wurde und bereits erste Festivallorbeeren erhielt, hatte Ursula Meier eine renommierte Kamerafrau an ihrer Seite: Agnès Godard sammelte in den Achtzigern als Kameraassistentin von Wim Wenders erste Erfahrungen und arbeitete unter vielen anderen mit Claire Denis, Catherine Corsini und Noémi Lvovsky zusammen. In Home schafft Godard eine anregende Dynamik zwischen langatmigen Totalen und dem energiegeladenen Hin-und-Her von fragmenthaften Grossaufnahmen – wie das Ursula Meier schon in ihrem Tous à table so meisterhaft ins Bild setzen liess. Dazu fügt sich eine prominente Tonspur, die vom kürzlich verstorbenen Tonmeister Luc Yersin stammt: das penetrante Zirpen der Grillen in der flirrenden Sommerhitze, das nervige Vorüberschnellen der Autos ebenso wie die tonlose Stille, die das verbarrikadierte Haus prägt. Beides steigert sich zu einem beklemmenden Crescendo, das an Michael Hanekes frühes Meisterwerk Der siebente Kontinent (1989) erinnert. Entgegen jener zynischen Parabel auf die heile Welt der Kleinfamilie gelingt es Ursula Meier in Home jedoch, den Plot in der Schwebe zu halten und mit leichter Hand eine ebenso originelle wie doppelsinnige Gesellschaftskritik zu zeichnen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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