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Autre homme 01

Un autre homme

Kino, und nichts als Kino. So kann man Lionel Baiers Un autre homme verstehen: als charmante Hommage an das Medium, dem er entstammt.

Text: Stefan Volk / 01. Jan. 2009

Kino, und nichts als Kino. So kann man Lionel Baiers Un autre homme verstehen: als charmante Hommage an das Medium, dem er entstammt. Der Westschweizer Regisseur hat selbst einiges zu dieser Lesart beigetragen. Seinen Film führt er auf ein kindliches Fernseherlebnis zurück, als er mit zwölf Jahren François Truffauts La sirène du Mississippi sah und fortan davon träumte, selbst einmal solch einen Film über «Schnee, Autos, Hochstapelei, Doppelleben, Sex und Gewalt» zu drehen.

Unverkennbar atmet Baiers in Schwarzweiss gedrehter Un autre homme den Geist des Kinos, für das Truffaut steht. Nouvelle vague und Film noir treffen in menschlicher Gestalt aufeinander: der junge, orientierungslose François, der innerlich ständig À bout de souffle ist, und Rosa, eine abgebrühte Femme fatale. Beide verbindet eine obsessive Affäre, die Baier zu den poetischsten Bildern seines – wie es sich für eine Verbeugung vor der Kinogeschichte gehört – überhaupt sehr sorgsam fotografierten Filmes motiviert. Der Kamerablick fällt am knienden François vorbei und durch Rosas gespreizte Beine hindurch auf einen Spiegel, der den intimen Grossaufnahmen eine sich im Hintergrund verlierende Totale hinzufügt. Zu viel Nähe und zu grosse Distanz begegnen sich in diesem Bild, das nie den richtigen, harmonischen Abstand findet. So wie auch die leidenschaftliche Beziehung von François und Rosa allein durch das Gegengewicht widersprüchlicher Extreme in einer labilen Balance gehalten wird.

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Kunstvoll arrangierte Szenen wie diese kreieren einen gewaltigen assoziativen Resonanzraum, der vor allem deshalb leicht mit Kinoerinnerungen an Wilder, Buñuel oder Rohmer aufgefüllt werden kann, weil Baier den Zuschauer beständig damit anfüttert. Er potenziert die symbolischen Reflexionen seiner Bildsprache zu einem cinephilen Zitatenkaleidoskop, indem er die Protagonisten seiner amour fou wie einst Rivette oder Godard als Filmkritiker arbeiten lässt, die sich über Filme von Rohmer unterhalten, und diese filigrane Spiegelfechterei schliesslich noch in einem Gastauftritt Bulle Ogiers, der Claire aus Rivettes Amour fou (1969), münden lässt.

In die Fussstapfen der «Cahiers du cinéma»-Autoren treten François und Rosa jedoch nicht. Eine Metamorphose vom kritischen zum kreativen Geist bleibt aus. Und auch als Kritiker stellen die beiden allenfalls Zerrbilder der Originale dar. François verschlägt es mit seiner Freundin Christine ins verschneite Vallée de Joux im Kanton Waadt. Dort heuert er bei einer kleinen Zeitung an, wo er jede Woche einen Film vorstellen soll, der ihm im einzigen Kino des Tals vorab gezeigt wird. Der erste Film, den er so zu sehen bekommt, ist Gus Van Sants Last Days. Weil François nichts dazu einfällt, kopiert er einfach eine Rezension aus der Pariser Filmzeitschrift «Travelling». Woche für Woche füllt er auf diese Weise die Filmspalten. Weil “seine” Besprechungen jedoch meist negativ ausfallen, streicht ihm die wütende Kinobesitzerin die Privatvorführungen. Auf eigene Kosten reist François von nun an zu den Pressevorführungen nach Lausanne. Dort lernt er Rosa kennen, die für eine grosse Tageszeitung schreibt. Im Gegensatz zu François verfügt sie zwar über das nötige journalistische Rüstzeug. Zugleich aber verkörpert sie den Inbegriff einer zynischen Kritikerin. Filme von Chabrol bespricht sie nach einer einfachen «Arithmetik»: jeder zweite Film ist ein Reinfall oder wird als solcher behandelt.

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Das, was den unbedarften Hochstapler mit dem eiskalten Profi verbindet, ist die völlige Indifferenz gegenüber dem Kino wie dem Leben. Als Rosa bei einem heimlichen Stelldichein in einem Luxushotel François einmal mehrere Unterhosen zur Auswahl mitbringt, weiss er nicht, für welche er sich entscheiden soll. So, sagt er, gehe es ihm immer. Er habe einfach keine eigene Meinung. Seine innere und soziale Verlorenheit schlägt sich scherzhaft darin nieder, dass er überall dort, wo er sich eine Zigarette anzündet, zurechtgewiesen wird. Auf den ersten Blick ist Rosa da ganz anders. Sie lässt sich nichts sagen und weiss sofort, wie sie etwas findet. Letztlich aber bleibt ihr Urteil oberflächlich, eine Augenwischerei, ihr selbst gleichgültig. Spätestens, wenn sie sich mit anderen Kollegen in einer Radiosendung ein sprachgewandtes, aber inhaltsleeres Wortgefecht über einen neuen Film liefert, erweitert sich Lionel Baiers Hommage an das (französische) Autorenkino zu einer zeitgenössischen Mediensatire. Zum Kino zweiter Ordnung (Film über Filme) gesellt sich noch das Kino dritter Ordnung (Film über Kritiker von Filmen).

Eine ganze Weile droht Un autre homme von diesem fragilen Überbau ins Bodenlose abzustürzen. Doch am Abgrund einer zum Gähnen langweiligen Kunstscharade hält Baier dem vergeistigten Signifikantenspiel die rauhe, wilde Körperlichkeit seiner grossartigen Hauptdarsteller entgegen. Die Präsenz ihrer erotischen Begegnungen drängt die Referenzen, die mitschwingen, wenn sie im Kino Sex haben, in den Hintergrund. Voll wütender Sinnlichkeit bekämpfen sie ihre Sinnleere mit dem Fleisch des anderen als Seelennahrung. Chinesische Essstäbchen werden so zu Instrumenten eines lustvoll schmerzlichen Genusses. Die sadomasochistische Geste, mit der Rosa das Gewicht einer Garnele mit dem der Hoden ihres Liebhabers vergleicht, mag dieselbe sein, mit der sie Filme beurteilt. Aber indem Un autre homme diesem Moment des Abwägens Raum gibt, geht er über das im Grunde belanglose Urteil hinaus, und ein eigenständiger, lebendiger Film durchbricht die Schale der Hommage.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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