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An Education

Text: Michael Ranze / 03. Mär. 2010

Wir befinden uns im London des Jahres 1961. Die «Swinging Sixties» und alles, was sie an Freiheit, Aufbruch und Hedonismus mit sich bringen werden, sind noch einige Jahre entfernt. England kämpft noch mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Eine Atmosphäre des Restaurativen und Konformen liegt in der Luft. Die sechzehnjährige Jenny, mit Abstand die beste Schülerin in ihrer Klasse, ahnt jedenfalls, dass es da draussen noch etwas Aufregenderes geben muss als das ereignislose Leben im Londoner Stadtteil Twickenham. Sie träumt von Erfolg und Glamour, von Mode und Kultur, von Genuss und langen Nächten. Gelegentlich wirft sie in Unterhaltungen ihr Schulfranzösisch ein, zur Irritierung ihrer Gesprächspartner. Jenny mag in Twickenham wohnen, doch ihr Kopf ist längst woanders – in Paris, jenem Sehnsuchtsort, an dem sich alle Träume, von der Liebe vor allem, erfüllen sollen.

Die dänische Regisseurin Lone Scherfig, bekannt durch Italienisch für Anfänger und Wilbur Wants to Kill Himself, spürt – unterstützt von Production Designer Andrew McAlpine, Kostüm-Designerin Odile Dicks-Mireaux und Komponist Paul Englishby – dem kulturellen Klima jener Jahre genau nach. Aufmerksam haben sich die Filmemacher jedem Detail bezüglich Aussehen, Musik und Haltung gewidmet. Scherfigs neuer Film beruht auf den Erinnerungen der britischen Journalistin Lynn Barber, die Nick Hornby, bekannt durch seine literarischen Vorlagen zu About a Boy und High Fidelity, zu einem ebenso amüsanten wie intelligenten Drehbuch verdichtete. Sensibel beschreibt er das Innenleben eines Teenagers, der – gefangen in einem bürgerlichen Elternhaus und gebremst in einer strengen Mädchenschule – die Ketten abwerfen will und nach Erfahrungen giert.

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Und dann kommt er: David, mehr als doppelt so alt wie Jenny, charmant, aufmerksam, zuvorkommend, attraktiv, gebildet, amüsant. Und er weiss, wie man einer Frau den Hof macht. Er sieht Jenny mit ihrem Cello-Kasten an der Bushaltestelle stehen, es regnet Bindfäden, und weil man ein junges Mädchen nicht einfach so in sein Auto lässt, verstaut er wenigstens das Cello in seinem teuren Bristol und fährt im Schritttempo neben Jenny her. Sie reden über klassische Musik, er verabschiedet sich artig vor dem Haus, er läuft ihr Tage später wie zufällig wieder über den Weg. Und dann öffnet David, begleitet von seinen Freunden Danny und der wunderschönen, aber erschreckend oberflächlichen Helen, Jenny die Tür zur grossen, weiten Welt: Ausflüge, Theater, Konzerte, edle Restaurants und angesagte Jazz-Clubs. Mit einem Mal hat Jenny das Gefühl, dass das angestrebte Studium in Oxford gar nicht nötig ist, um sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen.

Und was sagen Jennys Eltern zu alldem? Jack und Marjorie gehören der Mittelklasse an. Sie sind weder reich noch gebildet. Ihre Tochter lieben sie so sehr, dass sie sie am liebsten in Watte packen und vor allem Übel beschützen würden. Und wenn es mit Oxford nicht klappte, könne sie ja immer noch heiraten, so Jack. Alfred Molina, die komischste Figur des Films, spielt den Vater als lauten, engstirnigen Kulturbanausen, für den noch nicht einmal eine Busfahrt ins Westend infrage kommt. In seiner Naivität lässt er sich von David ordentlich einseifen: So ein netter, wohlerzogener und weltgewandter Mann wird doch nichts Unangemessenes von seiner Tochter wollen …

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Peter Sarsgaard hingegen verleiht seiner Figur eine bewundernswürdige Ambivalenz. Fast scheint es, als würden sich Davids Vorzüge in der Darstellung Sarsgaards widersprechen oder gegenseitig aufheben. Sein Lächeln ist sowohl gewinnend als auch kalt, sein forsches Selbstbewusstsein scheint immer auch etwas überdecken zu wollen. Schüchternheit? Verlegenheit? Eine Schwäche gar?
Und dann diese Augen, die das Gegenüber ein wenig zu lange und zu genau ansehen, um noch freundlich wirken zu können. So löst sein Charakter von Beginn an, trotz des Charmes und des Humors, eine beunruhigende Unsicherheit aus. Davids Geheimnis, das später gelüftet wird, und die Feigheit, mit der er sich seiner Verantwortung entzieht, kommen darum nicht mehr überraschend.

Als Gegengewicht zu David fungiert Jennys Lehrerin, gespielt von Olivia Williams. Sie fühlt, wie ihr Jenny zu entgleiten droht, und pocht in kurzen, konzis geschrieben Dialogen noch einmal auf die Bedeutung der Bildung – auch wenn am Ende nur eine einsame, gleichwohl hervorragende Schullehrerin wie sie selbst dabei herauskommt. Etwas Tragisches umweht diese Figur, die mit streng zurückgekämmten Haaren und grosser Hornbrille das Leben abzuwehren scheint. Doch Williams Schönheit scheint immer wieder durch diesen Panzer. Diese Lehrerin hat sich für das Richtige entschieden. Sie ist im Reinen mit sich.

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Doch dies ist gar nicht die Bildung, die der Filmtitel meint. Jenny durchläuft eine Erziehung des Herzens, bei der Luxushotels, die Bewertung von Antiquitäten und die Kenntnis von Bergman-Filmen genauso zur Bildung gehören wie – endlich! – ein Wochenende in Paris, wo sie ihre Jungfräulichkeit verliert. Erst durch diese Erfahrungen ist sie in der Lage, am Schluss die richtige Entscheidung für ihre Zukunft zu treffen.

Und jetzt ist es endlich Zeit, von der Hauptdarstellerin zu sprechen. Carey Mulligan, zur Drehzeit zweiundzwanzig Jahre alt, überzeugt als neugierige Sechzehnjährige, die es gar nicht abwarten kann, das Leben kennenzulernen. Keine kühle Schönheit, aber hübsch, gewinnt sie die Menschen durch Charme und Natürlichkeit. Sie strahlt, sie glüht, sie leuchtet. Und wenn sie mit hochgesteckten Haaren auf den Boulevards von Paris spazieren geht, erinnert sie für einen kurzen Moment an Audrey Hepburn und Sabrina. Auch sie kam verändert von der Seine zurück.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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