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127 Hours

Text: Michael Ranze / 12. Jan. 2011

Wäre er bloss ans Telefon gegangen! Als Aron Ralston an diesem Freitag aufsteht und sich auf sein Hiking-Wochenende im Canyonlands National Park im US-Staat Utah vorbereitet, spricht ihm seine besorgte, vielleicht aber auch einsame Mutter auf den Anrufbeantworter. Wie es ihm ginge, was er denn mache. Aron Ralston hört ungeduldig zu und verlässt eilig das Haus. Wäre er ans Telefon gegangen, hätte er seine Mutter in seine Pläne eingeweiht – und das Folgende wäre nicht passiert.

Gar nicht so einfach, über einen Film zu schreiben, über den im Vorfeld so viel berichtet wurde, der zudem auf einem wahren Fall beruht. Aron Ralston fiel im April 2003 bei besagter Kletterpartie in eine schmale Felsschlucht und wurde von einem riesigen Felsbrocken und der Canyon-Wand eingeklemmt. Erst fünf Tage später konnte er sich befreien, indem er sich den rechten Unterarm abtrennte. Man fragt sich als Zuschauer unwillkürlich, was man an seiner Stelle getan hätte. Hätte man selbst den Mumm und die Entscheidungskraft gehabt? Wäre die Verzweiflung gross genug gewesen? Und mit einem Mal steckt man mittendrin im neuen Film von Danny Boyle, der zuletzt mit Slumdog Millionaire so überaus erfolgreich war. Dem Regisseur gelingt es nicht nur, geschickt mit den dramaturgischen Beschränkungen der Handlungsprämisse umzugehen und den Zuschauer zur Identifikation zu zwingen, er hält auch mit inszenatorischen Einfällen, die man je nach Standpunkt virtuos oder angeberisch finden kann, das Interesse wach.

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Ähnlich wie zuletzt Buried von Rodrigo Cortés wird der Film – nach einem halbstündigen Prolog – seinen Schauplatz nicht verlassen und sich auf einen Schauspieler, James Franco, konzentrieren. Zu Beginn des Films schildert Boyle, der zusammen mit Simon Beaufoy auch das Drehbuch schrieb, Aron als charmanten, extrovertierten Draufgänger, ein versierter Mountainbike-Fahrer und Kletterkünstler zudem, ebenso risikofreudig wie abenteuerlustig. Als er zwei junge Frauen kennenlernt, überredet er sie zum Schwimmen in einer Unterwasserhöhle. Boyle etabliert fast so etwas wie eine unschuldige Idylle. Übermütig tollen die drei halbnackt herum, flirten, haben Spass. Die Katastrophe kommt darum umso überraschender.
«Between a Rock and a Hard Place» heisst das Buch, das Aron Ralston über den Absturz in einen Felsspalt geschrieben hat und dessen Titel seine Misere lakonisch, aber treffend umschreibt: Hier gibt es keinen Ausweg. Aron hat niemanden über seinen Ausflug informiert, die Mädchen sind längst weg, andere Hiker sind in diesem unwegsamen Gelände nicht unterwegs. Mit einem Mal ist der Zuschauer genauso erschrocken wie der arme Kerl, und als wenn die Erkenntnis der Verlorenheit nicht schon schlimm genug wäre, fahren Anthony Dod Mantle und Enrique Chediak mit der Kamera immer höher und höher und verschaffen so einen atemberaubenden Überblick über die steinige und karge, gleichwohl wunderschöne Wildnis. Ein Überblick, der dem Protagonisten verwehrt ist: weit und breit keine Menschenseele, die Hilfe verhiesse.

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Arons Welt ist auf einen ganz kleinen Raum zusammengeschrumpft. Die schmale Schlucht gewährt einen eingeschränkten Blick auf den Himmel, morgens spendet die Sonne ein wenig Wärme. Aron spricht in eine Digitalkamera, er hat etwas Lebensmittel, unzureichende Werkzeuge, eine dreiviertel volle Flasche Wasser. Er wird sterben, wenn ihm nicht etwas einfällt.

Eine Situation, die filmisch unmöglich aufzubereiten ist, so scheint es. Boyle lässt von nun an Erinnerungen einfliessen (etwa an den unbeantworteten Anruf der Mutter), Rettungsszenarien, die sich im Nachhinein als Wunschphantasie entpuppen, eine Nachricht, die die Mädchen in einem unbeobachteten Moment auf die Kamera gesprochen haben. Dabei erfindet Boyle, darin durchaus mit einem Regisseur wie Tony Scott vergleichbar, Bilder, die mit ihrem Ideenreichtum, ihrer Originalität, aber auch mit ihrer Überambitioniertheit und Manieriertheit von der eigentlichen Geschichte ablenken. Wenn der Zuschauer aus schrägem Winkel einen Schluck Wasser von der Flasche bis in die Kehle des Protagonisten verfolgt, ist dies zuallererst ein Beweis für Boyles visuelle Meisterschaft. Dem Film fügt diese Szene nichts hinzu.

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Boyle hat eine Vorliebe für diese Spielereien, und manchmal wünschte man sich, dass die psychologischen oder philosophischen Implikationen über Schicksal und Ich-bezogenheit, die der Film nur vage andeutet, mit Boyles visueller Phantasie mithalten könnten. 127 Hours ist die Geschichte eines sorglosen Hallodri, dem etwas Unwahrscheinliches zustösst – mehr nicht. Boyle erliegt aber nicht der Versuchung, ihn als Helden zu idealisieren. Aron ist mutig und knallhart, aber er ist auch ein Egoist, der nur seine hedonistischen Bedürfnisse auslebt und dafür bitter betraft wird.

Viel diskutiert worden ist auch die entscheidende Szene des Films. Zuschauer sollen im Kino schon in Ohnmacht gefallen sein, der Presseagent warnt vor der Vorführung eindringlich. Welch interessanter Widerspruch: Während sich Kinogänger gern durch Torture Porn wie Saw oder Hostel unterhalten lassen, bekommen sie bei der realistischen Nachbildung von Schmerz und versehrten Körpern weiche Knie. Dabei deutet der Film mehr an als er zeigt, die Tonspur ist viel grausamer als das Bild. Immer dann, wenn Aron grossen Schmerz erleidet, schockiert Boyle den Zuschauer mit einem lauten, surrenden Elektro-Sound, der in seiner Härte und Unmittelbarkeit zum Synonym von Schmerz wird. Man glaubt, die Qualen von Aron förmlich mitzuempfinden.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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