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Carnage

Text: Michael Ranze / 02. Nov. 2011

Für Roman Polanski schloss sich beim Zurich Film Festival der Kreis. Haargenau zwei Jahre, nachdem er 2009 am Flughafen verhaftet worden war, konnte er am 28. September vor begeistertem Publikum endlich seinen Ehrenpreis entgegennehmen. «Besser spät als nie», bemerkte er ein wenig süffisant und dankte – das allerdings im vollen Ernst – den Beamten des Bezirksgefängnisses von Winterthur. Sie hätten seine Haft erträglicher gemacht. Eine Haft, die nicht nur Wunden auf der Seele hinterlassen hat, sondern vielleicht – zumindest wagte Tobias Kniebe in seiner VenedigBerichterstattung diese These – seinen neuen Film beeinflusst hat. Denn wie Gefangene hocken die vier Protagonisten von Carnage in einer Mietwohnung aufeinander und können / wollen dieser Situation, Buñuels El ángel exterminador vergleichbar, nicht entfliehen.

Von Beginn an war Roman Polanski die ideale Wahl für die Filmadaption von Yasmina Rezas gleichnamigem Theaterstück, das dem Kulturbürgertum mit seinem Bildungsdünkel und seiner Selbstgerechtheit den Spiegel vorhält. Mit Filmen wie Macbeth, Tess, Death and The Maiden oder Oliver Twist hat er sich als sicherer Übersetzer von literarischen Vorlagen auf Zelluloid erwiesen, mit repulsion, rosemary’s baby und le locataire hat er ähnlich klaustrophobische Studien von grossstädtischer Entfremdung vorgelegt

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Denn Carnage spielt fast die gesamten 79 Minuten in einer Mietwohnung in Brooklyn. Eingerahmt wird der Film nur durch zwei Aussenszenen, in der die Kamera aus der Ferne in einer einzigen Einstellung auf den Brooklyn Bridge Park blickt. Eine Rasselbande elfjähriger Jungs gerät beim Spielen aneinander – bis einer seinem Kontrahenten mit dem Stock zuleibe rückt. Dieser stumme Prolog ist ein wunderschöner Kontrast zu den Wortgefechten, die Reza und Polanski – in einer nur geringfügig aktualisierten Version des Stückes – abfeuern.

In der nächsten Szene besuchen Alan und Nancy Cowan Penelope und Michael Longstreet in ihrer Wohnung. Der Sohn des einen Paares hat nämlich dem Sohn des anderen Paares mit besagtem Stock zwei Zähne ausgeschlagen. Nun soll es – zunächst ohne den Nachwuchs – darum gehen, eine Versöhnung der Streithähne vorzubereiten. Ganz in Ruhe, höflich und zivilisiert, bei Kaffee und Kuchen.

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Doch schon die genaue Benennung dessen, was geschehen sein könnte, führt zu ersten Differenzen. War Zachary, der Sohn der Cowans, nun mit einem Stock «bewaffnet» oder hat er ihn nur «gehalten»? Und dann brechen, ganz allmählich, die Krusten des Anstands auf, und Polanski sieht unbarmherzig dabei zu. Alan zum Beispiel. Von Beginn an lässt der geschäftige Anwalt demonstrativ sein Desinteresse heraushängen und nimmt jedes Telefongespräch an, das ihn mobil erreicht – zum Unwillen der anderen, die jedes Mal auf ihn warten müssen. Penelope, die undankbarste Figur des Films, glaubt in ihrer Naivität an das Gute im Menschen und versucht fast schon manisch, die Kontrolle über das Gespräch zu behalten. Doch ihre gezielt gesetzten Nadelstiche gefährden ein ums andere Mal das mühsam austarierte Gleichgewicht zwischen den Paaren. Michael, bodenständiger Besitzer einer Eisenwarenhandlung, überdeckt mit Jovialität und Konfliktscheu sein cholerisches Temperament, Nancy hingegen versucht, die Unhöflichkeit ihres Mannes abzufedern und stopft dabei zuviel Kuchen in sich hinein. Nicht sehr hilfreich ist auch der achtzehnjährige Single Malt (noch so ein Symbol bürgerlichen Wohlstands und Geniessens), den Michael offeriert, um die Wogen zu glätten. Plötzlich wenden sich nicht nur die Paare gegeneinander, sondern auch die Männer gegen ihre Frauen, neue Allianzen bilden sich, Tulpen und Handtaschen fliegen durch die Luft, Nancy entleert ihren Magen ausgerechnet über die kostbaren, weil vergriffenen Bildbände Penelopes.

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Boulevardtheater nennt man das wohl, und vielleicht ist damit schon eine kleine Schwäche des Films benannt: Polanski hat sich nicht von Rezas Stück befreit. Er erlaubt seinen Darstellern, die Slapstickmomente der Vorlage voll auszuspielen und dabei auch zu übertreiben. Dass es hier noch um mehr gehen könnte, um Klassengegensätze zum Beispiel oder Geschlechtsunterschiede, um Bildungsgefälle, auseinanderstrebende Meinungen und Interessen, geht in dem Tohuwabohu, das auch vor gelegentlichem Klamauk nicht zurückschreckt, unter. So kommt es, dass man sich während des Zuschauens häufiger fragt, warum die Figuren der unhaltbaren Situation nicht einfach entfliehen, und da die Figuren es selbst auch tun – «Was machen wir eigentlich noch hier?» –, bekommt §Carnage etwas eigentümlich Hermetisches und Künstliches.

Das ändert gleichwohl nichts an der Souveränität, mit der Polanski und seine Mitarbeiter die filmischen Mittel beherrschen. Die Beschränkung durch Raum und Zeit hebt der Cutter Hervé de Luze durch eine Vielzahl von Winkeln und Perspektiven auf, die Kamera von Pawel Edelman isoliert in starren Einstellungen die Charaktere oder setzt sie mit fliessenden Bewegungen in Beziehung zu anderen. Set Design und Kostüme geben darüber hinaus Auskunft über das bürgerliche Milieu, in dem Carnage spielt.

Am Schluss haben alle Beteiligten ihre Masken verloren, der letzte Hauch von Zivilisiertheit ist dahin. Alans Smartphone landet in einer Vase, und der Hamster, dessen gewaltsame Aussetzung Michaels Skrupellosigkeit beweisen sollte, knabbert munter vor sich hin. Die Kinder haben sich da – welch schöne Ironie – längst vertragen. Viel Wirbel um nichts also – und mit einem Mal ahnt man, was Polanski, angesichts des Wirbels um seine Verhaftung, an Rezas Stück so sehr gefallen haben muss.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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