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Polisse 02

Polisse

Text: Pierre Lachat / 07. Dez. 2011

Die «Brigade de Protection des Mineurs», die mit dem Schutz der Minderjährigen beauftragt ist, wird von andern Einheiten der Pariser Polizei wohlwollend behandelt, doch etwas von oben herab: wie schön für euch, Kollegen; ihr habt’s mit den Kindern und den Pädos zu tun; und wir kriegen die Betrüger, Diebe, Zuhälter, Einbrecher, Räuber, Schläger und Mörder zugeschoben! Entsprechend gern wird die BPM bei gefährlichen Flintengängen als Figurantin mobilisiert, um die dünnen Kolonnen der aufmarschierenden Ordnungskräfte wenigstens optisch und numerisch zu verstärken und damit Eindruck zu schinden. Kommt hinzu, dass die Sondertruppe statt police mit einem Wortspiel polisse heisst, und zwar implizit darum, weil sie die sogenannten polissons zu greifen hat. Gemeint sind jene sauberen Schweinigel und getriebenen Herumschleicher, beiderlei Geschlechts übrigens, die sich an die Knaben und Mädchen heranmachen: so, wie es gewiss auf den Strassen vorkommt, aber auch im trauten Kreis, versteht sich, der biedersten Familien.

Maïwenn Le Besco hat weder Zeit noch Lust oder Anlass, die Brigadisten als heldenhafte und unverzichtbare Vorkämpfer für Ziemlichkeit, Recht und Ordnung zu feiern. Höchstens bezeugt ihr Film den Opfern das gewiss geschuldete, aber wenig mehr als tröstliche Mitgefühl, also auch das unsere. In der Rolle einer allzeit bereiten Fotografin, Melissa, geht die Autorin selbst mit auf Streife, und was sie vom Rande des Geschehens aus beobachtet, ist vor allem das Befinden und Verhalten der einzelnen Beamten.

Denn von ihnen verkraften die einen recht und schlecht, was sie an allzu Menschlichem Tag für Tag zu sehen und zu hören bekommen; die übrigen hingegen lassen das Ermittelte, obwohl sie es kaum je in flagranti vor Augen haben, viel zu nahe an die eigene Teilnahme herankommen, weshalb einige, auf die Dauer, kaum noch den Belastungen gewachsen sind. Und wie sollen Sorgebedürftige für jemanden sorgen? Aufs Ganze gesehen ist es nahezu unmöglich, dem oft unschönen Treiben in den Quartieren der Metropole viel Wirksames entgegenzusetzen. Eine anhaltende Eindämmung darf schon als punktueller Fortschritt gelten. Dennoch, illusionslos erbringt Sisyphus weiterhin so viel, wie er halt auszurichten vermag: wohl wissend, dass es ohnehin nie hinreichen wird.

Polisse 01

Ist ein geschnappter Missetäter rechtskräftig verurteilt, oft erst Jahre danach, begiessen die Fahnder und Fahnderinnen das Ereignis reichlich und lassen sich vor Begeisterung auch zu allerhand Techtelmechteln untereinander hinreissen. Aber dann ist da eine Vierzehnjährige, die sich mit atemberaubender Selbstverständlichkeit und unbelastet von jedem Zutun Dritter an den Meistbietenden veräussert. «Du weisst, das hättest du nicht tun dürfen; er ist nämlich minderjährig wie du auch.» – «Der Bursche hat mir ein schönes Mobiltelefon dafür geschenkt.» Des erleichterten Gelächters ist kein Ende bei den Männern und Frauen vom Dienst. Ein lässiges «Selber schuld» geht ihnen manchmal recht flott von den Lippen. Jenseits der Vierzehn beginnt der Begriff der Minderjährigkeit sichtlich zu verschwimmen.

Von den bunten, teils entmutigenden, teils erheiternden Episoden wendet sich bloss eine ins Fatale. Und davon betroffen ist nur indirekt jemand aus den Reihen der Täter und Opfer, sondern es geht zuvorderst, und vielsagenderweise, um eine der Beamtinnen namens Iris. Denn ohne weiteres verlieren vorab ihre Kolleginnen da und dort die Nerven und verschaffen sich durch Schimpfen und Schreien ein wenig Luft; auch hauen sie etwa einem Muslim, der seine Tochter zwangsverheiraten will, die heilige Schrift fast schon physisch um die Ohren. «Zeig’ mir die Stelle, wo’s im Koran drin steht; wo steht, dass du so etwas tun darfst?» Es ist Nora, die sich der Verteidigung ihres Glaubens persönlich und konsequent auf Arabisch annimmt, eine echauffierte Muslimin.

Iris jedoch schweigt und kultiviert eine Bulimie, die sie zu verheimlichen sucht, namentlich durch exemplarischen Eifer bei der Arbeit; so bleibt lange unbemerkt, wie sehr sie den Aufruhr bei der BPM zum Kotzen findet, und zwar im wortwörtlichen Sinn. Schickt sie sich schwermütig in die Rolle des ungenannten Opfers, dann zweifellos zufolge einer zerquälten Empathie mit mehr als einem misshandelten Mädchen und namentlich mit einer totgebärenden Vergewaltigten.

Polisse 04

Doch will Polisse niemandem einflüstern, in jüngeren Jahren müsse die unglückliche Iris einmal sexuellen Attacken ausgesetzt gewesen sein; und überhaupt meidet der Film sämtliche AhaEffekte aus jener wohlfeilen Boulevard-Logik, die etwas immer gleich kapiert haben will, noch bevor die Sache wirklich geklärt ist. Unbewiesen zu bleiben hat ausserdem, dass die undankbare Aufgabe, die es in der Truppe zu verrichten gilt, wohl bei den Frauen am besten aufgehoben sei. Wiederum zugestanden wird, dass in manchem Einzelfall ganz einfach niemand mehr weiss, was intelligenterweise zu tun wäre.

Denn kein Paragraphenwerk vermag alles vorauszuregeln, was die unbedachte Realität sich noch einfallen lassen kann; mit Bestimmtheit ist hingegen zu erwarten, dass das Gesetz früher oder später von seinen Hütern eigenhändig gebrochen wird, indem sie dort zuschlagen, wo sie wie gewohnt hätten an sich halten müssen, wäre die Situation bloss etwas erträglicher gewesen. Der Regisseurin ist unbekannt, wie weit sie selber, im Gewand von Melissa, der überallhin mitlaufenden Knipserin, eigene Anzeichen von Anorexie erkennen lässt; eine Spur spekulativ gedeutet mag der Umstand das nahezu schwesterliche Interesse erklären, das der tragisch umwölkten, magersüchtigen Iris zukommt.

Maïwenn Le Besco realisiert so gut wie aus einem Guss: dokumentarisch, als wär’s fiktional, heisst das, und desgleichen natürlich umgekehrt. Die Methode grenzt an eine halsbrecherische Versuchsanordnung: sicher von der Kühnheit des Ansatzes wie vom homo
genen Endergebnis her betrachtet. Denn die Rede könnte leicht einmal von einer umfassenden Austauschbarkeit zwischen dem Realen und dem Erzählten sein, ebenso davon, dass es just präzise Planung und Organisation sind, die in vereinzelten Fällen ideal vorzutäuschen vermögen, die Szenen entsprängen gleichsam frisch von der Leber weg, zufällig und improvisiert, einem notdürftig umrissenen grossen Ganzen und fügten sich ebenso darin ein.

Polisse 08

Doch will Polisse niemandem einflüstern, in jüngeren Jahren müsse die unglückliche Iris einmal sexuellen Attacken ausgesetzt gewesen sein; und überhaupt meidet der Film sämtliche AhaEffekte aus jener wohlfeilen Boulevard-Logik, die etwas immer gleich kapiert haben will, noch bevor die Sache wirklich geklärt ist. Unbewiesen zu bleiben hat ausserdem, dass die undankbare Aufgabe, die es in der Truppe zu verrichten gilt, wohl bei den Frauen am besten aufgehoben sei. Wiederum zugestanden wird, dass in manchem Einzelfall ganz einfach niemand mehr weiss, was intelligenterweise zu tun wäre.

Denn kein Paragraphenwerk vermag alles vorauszuregeln, was die unbedachte Realität sich noch einfallen lassen kann; mit Bestimmtheit ist hingegen zu erwarten, dass das Gesetz früher oder später von seinen Hütern eigenhändig gebrochen wird, indem sie dort zuschlagen, wo sie wie gewohnt hätten an sich halten müssen, wäre die Situation bloss etwas erträglicher gewesen. Der Regisseurin ist unbekannt, wie weit sie selber, im Gewand von Melissa, der überallhin mitlaufenden Knipserin, eigene Anzeichen von Anorexie erkennen lässt; eine Spur spekulativ gedeutet mag der Umstand das nahezu schwesterliche Interesse erklären, das der tragisch umwölkten, magersüchtigen Iris zukommt.

Maïwenn Le Besco realisiert so gut wie aus einem Guss: dokumentarisch, als wär’s fiktional, heisst das, und desgleichen natürlich umgekehrt. Die Methode grenzt an eine halsbrecherische Versuchsanordnung: sicher von der Kühnheit des Ansatzes wie vom homo
genen Endergebnis her betrachtet. Denn die Rede könnte leicht einmal von einer umfassenden Austauschbarkeit zwischen dem Realen und dem Erzählten sein, ebenso davon, dass es just präzise Planung und Organisation sind, die in vereinzelten Fällen ideal vorzutäuschen vermögen, die Szenen entsprängen gleichsam frisch von der Leber weg, zufällig und improvisiert, einem notdürftig umrissenen grossen Ganzen und fügten sich ebenso darin ein.

Polisse 06

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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