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Rabbit hole 05

Rabbit Hole

Im Kino ist jüngst häufig vom Sterben die Rede. Weniger oft hingegen wird thematisiert, was uns weit öfter und stärker betrifft: Wie wir nach einem Todesfall mit den Lücken umgehen. John Cameron Mitchells’ Rabbit Hole tut nichts anderes als zu zeigen, wie ein Paar nach dem Tod seines Sohnes das Weiterleben übt.

Text: Irene Genhart / 13. Apr. 2011

Im Kino ist jüngst häufig vom Sterben die Rede. Weniger oft hingegen wird thematisiert, was uns eigentlich weit öfter und stärker betrifft: Wie wir nach einem Todesfall mit den Lücken in Verwandten-, Freundes- und Bekanntenkreisen umgehen und wieder Tritt fassen im Leben. Eine naturverwurzelt-magische und – bedingt durch die elliptische Erzählweise – auch etwas flüchtige Antwort darauf findet sich in Julie Bertucellis The Tree. Eine bodenständig-pragmatische – obwohl hier, wo das Sterben vor der Geburt liegt, der Tod sozusagen ein Sonderfall bildet – in La petite chambre von Véronique Reymond und Stéphanie Chuat.

Und nun also John Cameron Mitchells Rabbit Hole, der nichts anderes tut, als dass er zeigt, wie ein Paar, Becca und Howie Corbett, nach dem Tod seines Sohnes das Weiterleben übt. Jeder für sich, beide zusammen, zusammen auch mit Verwandten und Freunden. Acht Monate ist es her, dass Danny seinem Hund nach und einem Auto direkt vor die Räder rannte. Ein tragischer Zu- und Unfall. Auch für den siebzehnjährigen Jason, der am Steuer sass: «Vielleicht», sagt Jason, «bin ich ein, zwei Meilen zu schnell gefahren, damals.» Und Becca denkt: «Hätte ich damals das Gartentor geschlossen, mein Kind nicht aus den Augen gelassen, das Telefon nicht abgenommen …» Doch um die Schuldfrage geht es in Rabbit Hole nicht.

Im Zentrum des auf einem Theaterstück von David Lindsay-Abaire beruhenden Films steht Becca. Eine Frau Mitte dreissig, die sich nach der Geburt ihres Kindes von ihrer Berufskarriere verabschiedete und ganz auf ihr Mutter- und Hausfrauendasein einliess. Mitchell präsentiert eine ungewohnt erdige Nicole Kidman: als Frau, die Gartenarbeiten verrichtet, Apfelkuchen backt, Salat rüstet, Risotto zubereitet und zugleich – fragil und luzide – mit sich und dem Schicksal hadert. Da ist nichts zu sehen von der glamourös-kühlen Diva, die Kidman in Filmen wie Moulin Rouge (Baz Luhrmann, 2001), Dogville (Lars von Trier, 2003) und Nine (Rob Marshall, 2010) verkörpert.

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Im Gegenteil: die Kidman ist warmherzig, zerbrechlich, eine beherzte Schauspielerin, die eine anspruchsvolle Rolle bravourös meistert. In bieder-nettem Casual-Look geht Becca durch ihre Tage. Ist den Nächstwohnenden eine freundliche Nachbarin, der Schwester eine gute Freundin, gerät aber gleichwohl aus der Bahn, wenn jemand unachtsam ins frisch bepflanzte Blumenbeet tritt, die Schwester plötzlich schwanger ist. Becca steckt in einem Tief. Strampelt (bildlich: auf dem Hometrainer), um daraus herauszufinden, und kann dabei nicht umhin, sich und der Umgebung kleine Verletzungen zuzufügen. Der sie beleidigenden Frau im Supermarkt mit einer Ohrfeige, der Selbsthilfegruppe trauernder Eltern, deren Sitzungen sie zusammen mit Howie beiwohnt, indem sie eines Abends brüsk erklärt, dass, wenn es einen Gott gäbe, dieser Engel formen, statt Kinder zu sich rufen würde.

Vor allem ihre Mutter Nat – Diane Wiest ist eigenwillig, schusselig, schlampig, zugleich von einfühlsamer Fürsorglichkeit –, die selber einen Sohn zu Grabe getragen hat, bekommt eine geballte Ladung von Beccas Kratzbürstigkeit ab: Wenn man einen dreissigjährigen, drogensüchtigen Sohn verliere, zetert Becca, sei das etwas anderes, als wenn man ein unschuldiges vierjähriges Kind hergeben müsse. Gleichwohl sind beides Mütter, die trauern, und so stammt denn die vielleicht tröstlichste Einsicht aus Nats Mund: Nein, sie verschwinde nie, diese Trauer, antwortet Nat auf Beccas Frage, als sie zusammen Dannys Zimmer räumen. Doch sie werde leichter, so dass man sie nach einer Weile ab und an auch vergessen könne …

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Vom Weg zurück ins Leben berichtet also Rabbit Hole. Schildert nicht nur verschiedene Stadien der Trauer, sondern auch verschiedene Arten zu trauern. Zeigt, wie Howie, derweil Becca ihr Leben neu in Angriff nimmt, sich an die Vergangenheit und an Erinnerungen klammert und in eine gewisse gute alte Normalität zurückfinden möchte. Doch: «Things aren’t nice anymore», weist Becca ihn zurück, als Howie sie wie früher zu verführen versucht. Noch müssen die beiden loslassen, um vielleicht wieder zusammenzufinden.

Rabbit Hole ist in gewissem Sinne ein innerlicher Abenteuerfilm und als solcher hoch spannend. Auch wenn man ihm in den geschliffen-pointierten Dialogen, den schauspielerischen Ansprüchen, der (relativen) lokalen Begrenztheit die Herkunft vom Theater ansieht, schreibt sich Rabbit Hole auch sehr filmisch ein in einen Kanon von Werken, die zwischen american beauty (Sam Mendes, 1999) und desperate housewives das ganz gewöhnliche bürgerliche amerikanische Vorstadtleben ergründen.

So rigoros-harsch der Film die Frage nach dem Glauben zur Seite schiebt, findet sich darin in einem von Jason gezeichneten Comic doch auch die Vorstellung parallel existierender Universen. Wie in «Alice im Wunderland» landet man auch hier durch ein «Rabbit Hole» in einer anderen Welt. Bleibt dabei sich selbst, erfährt aber ein anderes Schicksal. Auch wenn diese Idee vorerst märchenhaft abgehoben wirkt, eröffnet sich durch sie doch die Möglichkeit zu einem neuen anderen Glück. Und wie Rabbit Hole schlussendlich – Sprache und (miteinander) Sprechen sind in diesem Film enorm wichtig – verspielt in den Konditionalis und ins Futur kippt, wird die Zukunft plötzlich als eine vielleicht gute greifbar. Und das ist dann tatsächlich sehr tröstlich!

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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