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Homme qui crie 01

Un homme qui crie

Es beginnt fast wie ein Urlaubsidyll – mit kühlendem Wasser, strahlender Sonne, blauem Himmel, Touristen, die sich auf Liegen räkeln, und Kellnern, die Drinks servieren. Derweil wettstreiten zwei Männer im Pool darum, wer von ihnen unter Wasser am längsten die Luft anhalten kann.

Text: Michael Ranze / 18. Mai 2011

Es beginnt fast wie ein Urlaubsidyll – mit kühlendem Wasser, strahlender Sonne, blauem Himmel, Touristen, die sich auf Liegen räkeln, und Kellnern, die Drinks servieren. Derweil wettstreiten zwei schwarze Männer im Pool darum, wer von ihnen unter Wasser am längsten die Luft anhalten kann. Der Ältere ist Adam, den alle respektvoll, aber auch ein wenig neckisch «Champion» nennen. Der Grund: Er war einmal zentral-afrikanischer Meister im Schwimmen. Doch das ist lange her. Seit dreissig Jahren arbeitet er als Chefbademeister in einem Luxushotel in N’Djamena, der Hauptstadt des Tschad, und man sieht gleich, dass dieser Pool sein Reich ist. Ein kleiner Kosmos, in dem er mit Erfahrung und Sachkenntnis, vielleicht sogar ein wenig Liebe den Ablauf der Dinge regelt, sein Sohn Abdel hilft ihm dabei. Hier, in dieser abgesonderten Welt mitten in Schwarzafrika, scheint es weder Hunger noch Elend zu geben. Doch die Zeiten ändern sich – das Hotel wird privatisiert, die neue Hotelmanagerin degradiert Adam zum Schrankenwärter, Abdel wird zum Chefbademeister ernannt. In viel zu enger, viel zu kurzer Uniform hockt der alte Mann wie ein Häuflein Elend, das an Emil Jannings in Murnaus Der letzte Mann erinnert, an der Schranke. Erst jetzt ahnt man, wie sehr ihm seine Arbeit als Bademeister Selbstbestätigung und Lebenssinn war, wie sehr der Aufstieg seines Sohnes einem Verrat gleichkommt. Zur anrührendsten Szene des Films gerät jener verzweifelte Versuch der Mutter, während des Abendessens beharrlich das Schweigen zu brechen, das Vater und Sohn sich auferlegt haben. Aus dem Radio dringt gelegentlich und eher nebenbei die Nachricht, dass der Bürgerkrieg immer näher rückt. Adam hat nicht das Geld, um seinen Sohn bei den Rebellen vom Kriegsdienst freizukaufen. Schlimmer noch: Der Film nährt den Verdacht, dass er es auch gar nicht will. Unvermeidliche Folge: Abdel muss in den Krieg, der Vater hat – welch böse Ironie – seinen alten Job wieder. Doch statt Touristen bevölkern nun Soldaten das Hotel …

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Es passiert nicht gerade oft, dass Filme aus Afrika in unsere Kinos kommen, und schon allein diese Tatsache macht das Drama von Regisseur und Drehbuchautor Mahamat-Saleh Haroun so besonders. Mehr noch: Dies ist der erste Film aus dem Tschad, der in Cannes im Wettbewerb lief und sogar mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Haroun wurde 1960 in Abéche im Tschad geboren. Auch wenn er später in Paris und Bordeaux studierte, kennt er die Verhältnisse in seinem Heimatland genau – ein Staat, der seit Jahrzehnten von Bürgerkriegen geplagt wird, sich sogar gegen die Schergen Gaddafis wehren musste. Vor diesem Hintergrund, der sich nur gelegentlich nach vorne schiebt, «wie ein verletzendes Lüftchen, das ab und zu bläst, wie ein Geist, der das Land jagt und ab und an erscheint» (Haroun), erzählt der Regisseur die Geschichte eines anrührenden, glaubwürdigen Vater-Sohn-Konflikts, der so auch woanders stattfinden könnte und darum einen universellen Charakter hat. Dabei geht es um Liebe und Respekt, aber auch um Konkurrenz und Neid, verletzten Stolz und Missgunst, um Schuld und Sühne. Die Unvereinbarkeit der widerstreitenden Gefühle, ihr Zwiespalt, führt zu einem hochdramatischen, emotional packenden Ende: Atemberaubend schöne Bilder aus der Wüste, durch die Adam auf der Suche nach seinem Sohn mit dem Motorrad fährt, stehen im starken Kontrast zur Gewalt des Bürgerkrieges. Dabei findet Haroun eine ganz eigene Form des Sehens und Erzählens. In akribisch komponierten, langen Einstellungen, häufig aus der Distanz aufgenommen, folgt er respektvoll seiner Titelfigur, der gelassene, zögerliche Rhythmus entspricht dem gemessenen Schritt, mit dem Adam seine Würde zu bewahren sucht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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