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Flying Home

In der Regel müssen Stoff und Personal eines Dokumentarfilms greifbar sein, ehe die Suche nach der Substanz konkret beginnt. Tobias Wyss kannte seinen Onkel überwiegend vom Hörensagen her, auch weil Walter Otto Wyss dreissig Jahre älter war; mehr aber noch ist der Hauptdarsteller von Flying Home abwesend, als der Filmautor nach der ersten Fährte tastet, und der angepeilten Figur ist schlecht habhaft zu werden.

Text: Pierre Lachat / 11. Jan. 2012

In der Regel müssen Stoff und Personal eines Dokumentarfilms greifbar sein, ehe die Suche nach der Substanz konkret beginnt. Tobias Wyss kannte seinen Onkel überwiegend vom Hörensagen her, auch weil Walter Otto Wyss dreissig Jahre älter war; mehr aber noch ist der Hauptdarsteller von Flying Home abwesend, als der Filmautor nach der ersten Fährte tastet, und der angepeilten Figur ist schlecht habhaft zu werden. Immerhin geht es um einen mehrfach Heimatlosen, der selbst die USA, das Land seines ursprünglichen Exils, noch für Japan verlassen wird. Als letzte Station läuft er Hawaii an, das folgerichtig halbwegs zwischen Amerika und Asien liegt, bestimmt aber die grösstmögliche Distanz hält zum Elternhaus im tessinischen Comano.

Die meiste Zeit über setzt WOW, wie er auch heisst, eine Flucht fort, die weder erklärt ist noch nachgewiesen werden kann; er geht sich sozusagen selbst aus dem Weg, möchte das flinke Klischee mutmassen. Was ihn sogar aus der Ferne noch in grössere Ferne treibt, ohne jemals von ihm abzulassen, ist zweifellos die Mutter, Luisa Ida Diener, der er Briefe in fast unbegrenzter Zahl schreibt: transozeanisch ödipal gebunden, wie ein weiterer Gemeinplatz wohl lauten müsste. Belegt ist, dass Wyss noch in frühesten Jahren am Steuer eines selbstgebauten Sportwagens jemanden zu Tode fährt und acht Wochen in einem Deutschschweizer Gefängnis absitzt. Näheres dazu bleibt nebulös, auch weil anderes sich dazwischen schiebt: die Familie strengt alles an, um möglichst unter Verschluss zu halten, was vorgefallen ist.

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Auf Umwegen erfährt der Autor, etliches zu spät, von der Angelegenheit, so dass sich nur werweissen lässt, in welchem Mass sie den Entschluss auszuwandern beschleunigt hat. Den prekären Voraussetzungen entsprechend geraten Recherchen, Dreharbeiten und Montage zu einer regelrechten Aufholjagd; es ist, als versuchte sich der Abgängige nach Art eines Gespenstes den Nachforschungen zu entziehen. Ungeachtet dieser oder jener Visite auf dem alten Kontinent, flying home, scheint der Onkel aus Amerika so sehr ausserstande, sein Vorhandensein auf Erden in Abrede zu stellen wie es anhand physischer Präsenz zu unterstreichen.

Den gelernten Ingenieur, heisst es einmal, beschrieben am besten die drei sams: seltsam, sparsam, einsam. Noch da ihn der Neffe in Honolulu endlich stellt, gehabt sich der Aufgespürte, als gälte es einmal mehr, einen möglichen Ausweg zu finden. Doch wäre es die letzte von so manchen Abkürzungen, die er bis dahin schon genommen hat. Unterdessen hält ihn das Greisenalter nieder, bereits im Vorfeld des Todes; unwiderruflich inhaftieren wird ihn erst das Versenken seiner Asche in europäischem Boden.

Einmal lokalisiert, ist der WahlInsulaner weder willens noch fähig, selbst anzugehen, was dann der Film an seiner Stelle zu versehen hat: einen Blick zurück zu werfen auf einen Lebenslauf in Bruchstücken, der immer nur unter einem Imperativ gestanden ist: du eilst, wie die Zeit, auf und davon! Aus dem Nachhinein sind da mehr Projekte und Initiativen zu verzeichnen als Resultate und Fortsetzungen. Nach einigen Jahren bei General Motors und Chevrolet in Detroit konstruiert er in den späten Vierzigern gleichsam einen frühen Hybrid-Strassenkreuzer, wahrhaftig mit kombiniertem Elektro- und Benzinantrieb; den Prototypen wird die Firma Beechcraft freilich nie in Serie bauen oder auch nur ins Museum stellen.

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Keine Frage, Geschwindigkeit ist die Leidenschaft des ungestümen Entwicklers; bloss vermögen die Automobile nur humpelnd mit seiner visionären Phantasie Schritt zu halten, so dass er letztlich wenig Nennenswertes zum Fortschritt der Technik beizusteuern vermag. Es wird noch viel Gemächliches geschehen, ehe ans Energiesparen, an einen Ersatz für den damals noch fast kostenlosen Sprit oder gar an so etwas wie den Schutz vor Abgasen auch nur gedacht wird.

Lebenslang ledig, sucht, findet und verliert oder verlässt WOW Freundinnen, von denen wohl jede unabhängig von jeder nächsten zum nämlichen Schluss gelangt: dass eine Frau andern Impulsen unterstehe als die Männer, werde jemand von [seiner] Sorte nie begreifen. Mehr oder weniger in diesem Sinne umschreibt es namentlich eine mexikanische Tänzerin aus Los Angeles. Martinique Landois erinnert sich wohlwollend und dennoch mit gemischten Gefühlen an ihren Verflossenen. Die Vermutung kommt auf, technische und amouröse Intuition gerieten einander oft in die Quere, während den Erfindernaturen die Innovation sichtlich leichter falle als etwa das Erwachsenwerden.

Henry Ford war das Idol des Autonarren Walter Otto Wyss. Einmal ist der Einwanderer aus dem abgelegenen Switzerland tatsächlich bis auf einen Meter an den Konstrukteur und Magnaten herangekommen, wie ein Foto von dem Zusammentreffen es unabweisbar demonstriert. Aus einer eigenen Kopie des exakt selben Schnappschusses hat allerdings das Archiv des legendären Konzerns in Detroit längst die Gestalt just dieses einen dahergelaufenen, womöglich ungebetenen Besuchers herausgepickt und ersatzlos retouchiert.

Offenbar sollte der Eingriff allen Bedenken vorbeugen helfen, der hehre Firmengründer habe sich mit Angestellten kommunen Standes umgeben. Was sonst noch hinter der Annullation gesteckt haben mag, wie hinter manchen andern Episoden, ist jedermanns nimmermüdem Argwohn überlassen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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