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Mein erster Berg

«Ich bin am Tor zur Innerschweiz aufgewachsen, mit Blick auf die Rigi.» So erklärt der Erich Langjahr den Titel Mein erster Berg, der nun keineswegs sein erster Beitrag zum Thema ist.

Text: Pierre Lachat / 31. Okt. 2012

Die Rigi ist ein voralpiner Halbgipfel, der sich mit seinen unter 2000 Metern über Meer eher nur mittelhoch ausnimmt. Dass die Erhebung so viel Berühmtheit hat erlangen können, liegt an der besonderen Lage zwischen dem Mittelland im Norden und den eigentlichen Gletscherregionen weiter südlich. Egal, welchen Pfad jemand durch die Inner oder Urschweiz wählt: unübersehbar und meistens von der Seite her schiebt sich die Rigi ins Bild hinein.

Die schroffe Froschperspektive verdient wiederum eine lohnende Umkehrung durch das vielgelobte Panorama, das sich auf Adlerflughöhe bietet: gegen die Städte hin und handkehrum nach der Alpenkette. Die Aussicht weitet sich dank der umliegenden Seen, die Blick und Raum öffnen statt zu verschleiern. Die Bahn hinauf zum massiven Turm und Signalumsetzer am obersten Punkt beschert den Rest. Im Dokumentarfilm von Erich Langjahr sind die natürlichen Gegebenheiten der Rigi statt ausladend veranschaulicht und gefeiert fast schon vorausgesetzt, samt und sonders. Wie immer die Bedeutung des Ortes zu verstehen sei, sie braucht kaum noch herausgestrichen zu werden, sondern will aus den vorgefundenen Details heraus erforscht, ja förmlich durchschaut sein.

Wer etwa nach Goethe oder Mark Twain und andern sagenhaften Frühbesteigern fragt, sieht sich milde enttäuscht. Denn die Annalen werden sauber chronologisch im Abspann heruntergespult, was schon fast verwerfend wirken mag. Worauf es wesentlich ankommt, ist gewiss das Hier, aber mehr noch das Heute. Die Abhänge und Felswände werden vom Tal aus nach der Vertikale mit Stahl, Beton und Plastik überzogen, eher stürmisch als schleichend. Es naturschützlerisch zu beklagen hat der Autor weder Lust noch Zeit; vielmehr ist der Aufstieg von Verkehrsnetzen, Dienstleistungen, Neu- und Hochbauten aller Art als unvermeidliche Komponente einer Eigenart dargestellt, die sich zur Post-Folklore ausgewachsen hat. Irreparabel ist es ihr versagt, die hergebrachte fortzusetzen.

Traditionelle Trachtenträger mit ihren Kuhherden kreuzen beim Alpauf- oder abzug vorwiegend japanische Knipser und Videofilmer; und spätestens derartige Sequenzen machen eines deutlich: inzwischen wird von den Hergereisten bestimmt, welches die dominanten Volksbräuche sind. Die halbe Welt ist hier mitverwurzelt; im weiteren Sinn duldet die Globalisierung keine Einheimischen mehr gesondert von den Fremden. Tourististan ist überall und nirgendwo.

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Dennoch, oder gerade deswegen, ist alles Herkömmliche keineswegs etwa verschwunden oder denaturiert, es hat sich den einmarschierten Mächten bloss beugen müssen. In einem gerade noch möglichen Mass ähnelt der Protagonist des Films, Märtel Schindler, auf der Rigi geboren und aufgewachsen, einem bärtigen, wortkargen Bergler von altem Schrot und Korn. Gewiss, er züchtet Ziegen, was sich nur schwer mechanisieren lässt; ein stoischer Virtuose aber ist er erst an den Schaltungen seines Pel Job EB 254. Der Bagger, Kran, Bohrer und Rammer meistert die unglaublichsten Volten und Kippbewegungen. Das Publikum zittert für beide mit, den halsbrecherischen Fahrer und seine fast spielzeugartige Maschine, wenn auf Raupen rückwärts gefahren wird: querfeldein, bergauf, bergab; und was immer voralpin genau bedeutet, abschüssige Strecken gibt’s genug.

«Ich bin am Tor zur Innerschweiz aufgewachsen, mit Blick auf die Rigi.» So erklärt der Autor den Titel Mein erster Berg, der nun keineswegs sein erster Beitrag zum Thema ist. Nach einer Reihe von Dokumentationen, die er realisiert habe, bilde jetzt gerade die eine den Abschluss seiner Betrachtungen der ländlichen und gebirgigen Schweiz. Der abgeklärte Geist, in dem das tolle Treiben auf der Rigi und rund um sie herum in hunderten von Einzelheiten geschildert wird, aber ohne jeden Mahnfinger oder penetranten Kommentar, macht aus der Reportage eine vollgültige Erstbesteigung.

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So haben wir’s nie gesehen, und hat es keiner umfassend zu zeigen gewagt; und wäre es er selbst, Langjahr, gewesen. Vor über einem Vierteljahrhundert hat Fredi M. Murer, ein paar Dutzend Kilometer weiter südlich der Rigi, mit Höhenfeuer den einen Spielfilm gedreht, der das Leben in den Bergen noch ganz im herkömmlichen Sinn darstellt: losgelöst von den Niederungen über hundert Kilometer nach allen Himmelrichtungen und klaustrophobisch auf sich selbst bezogen. Es war das Meisterwerk eines Schweizer Filmschaffens, keine Frage, das noch vom Verständnis des 20. Jahrhunderts ausging und es in einem Mass auch zu verteidigen trachtete.

Mit durchaus vergleichbarer Entschiedenheit und Präzision setzt Mein erster Berg einen völlig andern Akzent, ins 21. Jahrhundert passend. Sicher existieren Verhältnisse, wie sie bei Murer geschildert sind, da und dort noch; aber sie sind inzwischen selten geworden, die industrialisierten Realitäten dessen, was als Unterland bezeichnet wird, sind in die meisten Gegenden des Hochlandes vorgedrungen.

Die Nachfrage nach der heimatlichen Folklore von ehedem freilich hat zugenommen und sieht sich mehr und mehr in allerhand Anlässe eingespiesen, die sich gern zu sogenannten Events emporschrauben. Die Höhenfeuer wiederum, die in die Nacht hinausleuchten, erlöschen eher wieder. Die Rigi von heute ist wohl das beste Beispiel für den eingetretenen Wandel. Eingangs und ausgangs wählt Langjahr ein Bild, das den Signalcharakter seines ersten Bergs hervorhebt. Auf einer der Felswände wird eine überdimensionierte Nationalflagge montiert, die mit dem weissen Kreuz im roten Feld weithin für die Business-Marke Helvetia wirbt: geschäftsbelebend, umsatzsteigernd, erfolgsbehauptend, aber womöglich am Ende nutzlos, ja für Wenige abschreckend; selbst wenn das Plakat dank Beleuchtung durch die Dunkelheit strahlen sollte, wie es die Höhenfeuer taten. Oder tun sie’s noch?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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