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Courage 01

Courage / Wymyk

Von nichts zuviel. Mitunter schlägt die Courage in Tollkühnheit um und die Vorsicht in Feigheit; es geschieht etwa oder namentlich dann, wenn unter Geschwistern Rivalität aufkommt.

Text: Pierre Lachat / 05. Dez. 2012

Von nichts zuviel. Mitunter schlägt die Courage in Tollkühnheit um und die Vorsicht in Feigheit; es geschieht etwa oder namentlich dann, wenn unter Geschwistern Rivalität aufkommt. Sibling rivalry, so heisst das ambivalente Ritual mit einem festen englischen Begriff. Denn gewiss können gerade Brüder aus der Konkurrenz auch etwas Förderliches machen, indem sie einander antreiben oder nacheifern. Und die einfachste und wohl auch häufigste Art, Fehlentwicklungen zu vermeiden, besteht darin, dass der eine von beiden auf Distanz zur Familie geht, um so gefährliche Spannungen zu mindern. Der Film von Greg Zglinski aber stellt die klassische Ausgangslage auf den Kopf und spitzt sie zu, indem Alfred und Jurek allzu nahe aufeinander hocken. Wohl in der Absicht, niemanden zu bevorzugen, hat der greise Vater seinen Söhnen je zur Hälfte eine bescheidene Privatfirma mit einer Handvoll Angestellter überschrieben.

Doch akzentuiert sich gerade nach solchen Zuteilungen der geschwisterliche Zwang, sich aneinander zu messen und einander zu übertrumpfen, äusserstenfalls den jeweils andern aus dem ungewollt angestifteten Wettrennen zu werfen; und die Neigung kann nach beiden Seiten hin krass und verletzend um sich greifen. Auf jede erdenkliche Weise, beruflich wie familiär, versucht jeder, dem Bruder etwas unter die Nase zu reiben, und tut es bald einmal rücksichtslos. Dennoch nimmt nun der Konflikt in Courage keineswegs die traditionellen Kinoformen eines offen geführten Kampfes an, wie er etwa in East of Eden vorgebildet ist und wie ihn auch der italienische Reim fratelli coltelli beschwören will.

Vielmehr bleibt der Antagonismus zwischen Alfred und Jurek intensiv, aber latent. Die Messer fliegen sozusagen unsichtbar. Was von einem vorangetrieben wird, hintertreibt der andere. Legt der eine Mut an den Tag, will er die Feigheit des andern unterstreichen. Zeigt der andere Umsicht, richtet es sich gegen den Wagemut des einen. Zunächst erscheint Alfred als der Leicht- und Eigensinnige, der gern vormacht, was Risiko bedeutet und wie jeder flott vom Fleck kommen kann, der es versteht, alles auf allerhand spontanes Knabenspiel zu setzen. Rasante Autos sind pannenanfällig mit von der Partie; desgleichen klassische Pistolen, für die es viele Sammler gibt, aber kaum noch Munition.

Illusion der Überlegenheit

Jurek hingegen hält sich für verantwortlich; er hat Kinder und übt in allem, was Firma und Familie angeht, reifliche Überlegung und schrittweises Vorgehen; dem Vorwurf seines Bruders Alfred, ein nachgiebiger und kleingläubiger Hasenfuss zu sein, der jede Unsicherheit scheue, scheint er schon fast entsprechen zu wollen. Indessen bringt der alltägliche Zufall eine Situation mit sich, an die keinesfalls zu denken war, weil die nun herbeifliegenden Messer zwar den familiären und geschäftlichen Bereich wie Blitze treffen, aber von einer dritten Seite herrühren.

Courage 03

Geht uns alles nichts an, könnten die Brüder mit gutem Grund sagen und die Affäre wohlweislich vorüberziehen lassen. Doch mitten in der unechten Klemme drin sieht sich ausgerechnet Jurek dazu bewegt, beweisen zu wollen, dass auch er über die Fähigkeit verfügt, ohne unmittelbaren Anlass couragiert zu handeln. Plötzlich sind die Rollen vertauscht, heisst das, und damit sind sie wohl falsch verteilt. Die Angst überkommt den, der nie welche zu haben behauptet, während den andern eben der Mut heimsucht, den ihm niemand zugetraut hat, und wäre es er selbst. Fast wie abgesprochen erweist sich der eine als zu wenig vorsichtig, oder eben der andere als nur scheinbar unerschrocken.

Nächstens einmal der Überlebende, glaubte Alfred, der Stärkere zu sein und erkennt am Patientenbett seines Bruders, wie sehr die Zweiteilung in Schwächere und Tüchtigere auf einer Konvention beruht. Welcher hätte da des andern Hüter sein sollen, um etwa ein mitgeführtes, aber ungeladenes Knallscheit zu zücken? Den daniederliegenden Jurek wähnt er unbeabsichtigt vorausgeschickt zu haben und damit ins Verderben. So mündet die Rivalität nachträg­lich in einen Gewissenskonflikt, mit der Folge, dass sich die Frage nach Schuld oder Mitschuld auf eine letztlich unbeantwortbare Weise erhebt. Wer sich für besonders widerstandsfähig hält, wird eine zutage getretene Schwäche leicht ins Unverzeihliche umdeuten. Wer hingegen die Illusion der eigenen Überlegenheit überwunden hat, der braucht sich niemals mehr schwach zu fühlen und etwas beweisen zu müssen.

Unterm Rad des Wachstums

Das postkommunistische Polen wird inzwischen als neues Wachstumswunderland gepriesen wie noch vor wenigen Jahren Irland oder Spanien, die leider von der alleinseligmachenden freiwirtschaftlichen Doktrin abgewichen sind und für so viel Mangel an Disziplin zu büssen haben. Ohne auf die weiteren Zusammenhänge einzugehen bringt Zglinski, übrigens ein Schweizer polnischer Abstammung, die Frage nach dem Woher und Wohin Osteuropas auf den Punkt, indem er aus dem provinziellen Alltag seines Landes zwei vielsagende Details sozusagen in einem Zug anführt. Letzteres ist gerade auch wortwörtlich zu verstehen.

Wo es zu einer Schlägerei kommt, wird sie von Passanten prompt auf Video festgehalten und die Szene im Internet veröffentlicht, womit den Behörden geholfen ist, aber vielleicht auch einigen weniger vertrauenswürdigen Nutzern. Anderseits lassen sich in den Passagierwagen eines Vorortszuges, der keineswegs etwa altersschwach wirkt, die Türen auch während der vollen Fahrt öffnen, sodass wie in einem Wildwestfilm Reisende den Damm hinunter fallen oder gestossen werden können. Die Modernisierung ist teils überstürzt, teils hinkt sie hinterher, heisst das, und alle Welt foutiert sich um beides. Hierin hat sich in zwei Jahrzehnten europäischer Geschichte wenig geändert.

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Fest verschliessbare Türen für alle Eisenbahnwagen müssten Vorrang haben gegenüber den digitalen Techniken der Bespitzelung und des Zurschaustellens. Doch scheint zwischen den zwei Extremen nichts Drittes gegeben: ähnlich wie zwischen dem vorschnellen Alfred und dem bedächtigen Jurek, die keinen Ausgleich finden. Fragt sich bloss, ob die Firma der Beiden, eines von vielen Internet-Fernsehprogrammen, auf die düsteren Geschehnisse in der Besitzerfamilie warten musste, um ins Prekäre zu verrutschen und unters Rad des sogenannten Wachstums zu geraten. Ein Bruder weniger, endlich. Die Geier warten schon. Ob es nach Verwesung riecht oder nach Frischfleisch, der freie Markt leckt sich die Finger. Bieter, Makler klopfen an, wegen steigender oder sinkender Werte und Preise. Polen scheint in die mobile Zukunft integriert: ein Spielball mehr.

Überall und Nirgendwo

Aus Warschau gebürtig, in Aarau aufgewachsen, führt Greg Zglinski ein bewegliches, sogar unstetes Berufsleben. Tout un hiver sans feu entstand 2005 in den verschneiten, windigen Höhen des Jura und war einer der auffälligsten Schweizer Kinofilme seit der Jahrtausendwende. Courage wiederum mutet gerade deswegen so polnisch an, weil er vom mehrdeutigen Thema wie vom lakonischen Stil her freimütig den Einfluss von Krzysztof Kieslowski zu erkennen gibt: einem Autor notabene, der zu seinen Lebzeiten noch militärisch die Fersen zusammenschlug, wenn er mit Journalisten wie dem unterzeichneten bekannt gemacht wurde. Zwischendurch hangelt sich Zglinski durch eine Episode von polnischen TV-Serien nach der andern hindurch; sechzehn sind es bisher an der Zahl geworden.

Da eine Herkunft, dort eine Tradition und dann immer mitten drin im Überall und Nirgendwo: es sind derlei mehrfach gekreuzte Biografien, die oftmals die originellsten Filmemacher zeitigen. courage, seien wir offen, hat mit der Schweiz so gut wie nichts zu schaffen. Tout un hiver sans feu anderseits wirkt in vielfacher Hinsicht so eigen
artig helvetisch wie auch wieder merkwürdig fremd, doch ohne sich nun ausgesprochen polnisch geben zu wollen. Die Verbindung zwischen den beiden Filmen ist, kaum verborgen, im Seelischen zu finden.

Der jurassische Bauer, Jean, der im falschen Moment am falschen Ort war, als über Nacht sein Hof niederbrannte, erliegt ähnlichen Gefühlen, versagt zu haben, wie sie Alfred, den voraussichtlich gescheiterten polnischen Kleinunternehmer peinigen. Im weitestmöglichen Sinn mittel- bis osteuropäisch und der Spur nachchristlich, so gerät wohl ein Filmschaffen von solcher Art. Kieslowski war von vergleichbarem Format und stets mit Fragen des Zufalls, der Ungewissheit, des Zwiespalts, der Schuld, der Reue zugange und immer auf der Suche nach dem Sinn des tatsächlich oder scheinbar Sinnlosen. Und dann erschien er doch wieder unfassbar anders, restlos in sich gekehrt und irgendwann, irgendwo gleichsam verschwunden aus Zeit und Raum.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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