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Tyrannosaur 01

Tyrannosaur

Denn der Film fällt mit der Tür in den Kinosaal. Er ist brutal, direkt, hart, dicht, schrecklich.

Text: Veronika Rall / 02. Mär. 2012

Manche Kritiken neigen dazu, den filmischen Gestus nachzuvollziehen – sie schwärmen von schwärmerischen Produktionen, sie beschreiben deskriptive und diskutieren argumentative Filme. Diese Haltung zeugt meist von einer zu grossen Nähe des Kritikers, der Kritikerin zu ihrem Sujet; trotzdem möchte ich sie mir angesichts Paddy Considines Tyrannosaur zu eigen machen.

Denn der Film fällt mit der Tür in den Kinosaal. Er ist brutal, direkt, hart, dicht, schrecklich. In nur 89 Minuten werden die Zuschauer sehen, wie zwei Hunde erschlagen werden, wie einem Kind das halbe Gesicht weggebissen wird, wie eine Frau vergewaltigt und blau geprügelt wird, wie ein Kind gequält wird, gar nicht zu sprechen von den zahlreichen Schlägereien zwischen Männern. Zu den meistbenutzten Objekten im Film gehören ein Baseballschläger und ein Vorschlaghammer, Biergläser und Schnapsflaschen. Die Kamera klebt haptisch an diesen Objekten, genauso wie an den handelnden Personen: Jede tief eingegrabene Falte zeugt von alten, jede Wunde von frischen Verletzungen. Der Film ist so drastisch, dass allein das Zuschauen schmerzt.

Das alles gesagt, kann man vielleicht eine Inhaltsangabe der Geschichte wagen, die Tyrannosaur allen Nahaufnahmen zum Trotz auf die Leinwand bringt. Sie ist im Norden Englands situiert, Paddy Considine erzählt von zwei Menschen: Joseph, einem alternden Mann, der seine Frau verloren hat und einsam in einer desolaten Siedlung lebt; und Hannah, einer Frau aus einer besseren Schicht, die scheinbar selbstlos in einem christlichen Brockenhaus arbeitet. Es ist die zarte Annäherung zwischen den beiden, die ebenfalls über einige Verwundungen führt und andere wieder aufreisst, die den Film erträglich macht. Joseph wird hilflos in Hannahs Laden auftauchen, ihr offenes Interesse wird ihn nachhaltig irritieren, genauso wie seine brachiale Direktheit schliesslich ihre Lebenslügen enttarnen wird. Der Laden ist für Hannah genauso eine Zuflucht wie für Joseph, die christliche Barmherzigkeit nur ein dürftiges Gewand für die Gewalt, die sie zuhause von ihrem Ehemann erfährt.

Tyrannosaur 03

Gewalt, so zeigt Tyrannosaur – auch wenn er sich meist in den Häusern, den Pubs und den menschenleeren Vierteln der unteren Mittelschicht aufhält – ist kein Klassenproblem, keines der sozialen oder ethnischen Herkunft. Sie speist sich eher aus der Wut, die keinen anderen Ausdruck, keine Sprache findet, und doch so häufig die menschliche Beziehung zur Welt prägt.

Considine zieht mehrere soziologische Erklärungen für diese Wut heran, ohne sie sich abschliessend zu eigen zu machen: Wut ist eine Reaktion auf Frustrationen, die an der Umwelt abreagiert werden, das Objekt ist ihr egal. So versetzt Joseph seinem geliebten Hund einen tödlichen Tritt, weil er im Pub mit irgendwelchen Leuten aneinandergeraten ist. So wird Hannah von ihrem Mann gefoltert – nur weil sie zugegen ist und zur Verfügung steht. So wird Joseph angegriffen, nur weil er allein und verletzbar scheint. Aber: Wut ist auch ein erlerntes Verhalten, das schon im Kindesalter geprägt wird; diese These erläutert Tyrannosaur am Nachbarjungen Samuel, ein zutiefst empathisches Kind, das vom Liebhaber der Mutter misshandelt wird. Sam wird es kaum gelingen, dieser Spirale aus Wut und Gewalt zu entgehen. Aber: Wut ist vielleicht auch die masslose Lust, Wut setzt den ganzen Körper ein und nimmt ihn schliesslich gefangen. Und: Wut ist auch die letzte Geste einer Selbstachtung, die sich den Verhältnissen zum Trotz artikulieren will. Wut ist grenzenlos, Wut ist hilflos, Wut ist sprachlos.

Dass genau das alles filmisch und filmisch zeigbar ist, das hat Considine begriffen und setzt es gemeinsam mit seinen hervorragenden Schauspielern um: Peter Mullan in der Rolle des Joseph scheint ständig vor Gefühlen fast zu zerspringen; er muss keinen Baseballschläger in der Hand haben, um die Wut fühlbar werden zu lassen, manchmal reicht es zu zeigen, wie er geht, wie er über ein Bierglas in die Runde starrt, wie er zu den Nachbarn hinüberblickt. Eine andere Facette zeigt Olivia Coleman in der Rolle der Hannah, die vergeblich versucht, die Wut zu unterdrücken und unter freundlichen Gesten zu verstecken. Letztlich wird sie es nur schaffen, sie eher defensiv und autoaggressiv zu kanalisieren. Aber nicht nur die Menschen, auch die Dinge erscheinen in Tyrannosaur beschädigt – in Josephs Wohnung wimmelt es von angeschlagenem Nippes und zerstörten Bilderrahmen. Hannahs Heim dagegen erscheint zu aufgeräumt, zu clean, als hätte jemand alle Gefühle beiseite geräumt.

Tyrannosaur 05

Es ist dieses archaische Zeigen, das den Film von Considine vom typisch britischen Sozialrealismus eines Ken Loach oder eines Mike Leigh unterscheidet – es geht ihm weniger um Politisches als um Psychisches, das die Körper zerbersten lässt und an der reinen Oberfläche des Kinos sichtbar wird. Wie die Saurier in Jurassic Park sind die Protagonisten in Tyrannosaur Urgewalten, die die Erde erzittern lassen und sich gnadenlos auf alles stürzen, was ihnen im Weg steht.

Mit seinem Panoramablick auf ein Gefühl kann der Film die Wut nicht abschliessend verurteilen, eher noch lässt er seine Menschen eine sentimentale Entwicklung vollziehen, die durchaus ethische Qualitäten hat. Dabei hält sich Considine an die Worte des griechischen Philosophen Aristoteles: «Jeder kann wütend werden», schrieb er in der Nikomachischen Ethik, «das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Mass, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.»

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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