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Moonrise Kingdom

«Skurril» ist wohl die Bezeichnung, mit der man die Filme von Wes Anderson am treffendsten charakterisieren kann. Auch im Mittelpunkt von Moonrise Kingdom steht wieder die Familie, als real existierende, ziemlich dysfunktionale Konstellation, die Leiden verursacht, und zugleich – als deren Gegenentwurf – als Sehnsuchtsort, nämlich als funktionierendes, das Individuum unterstützendes Sozialgefüge. Ein utopisches Konstrukt, fürwahr, denn Andersons Protagonisten sind allesamt ziemlich problembeladene Exemplare der Spezies Mensch.

Text: Frank Arnold / 13. Juni 2012

«Skurril» ist wohl die Bezeichnung, mit der man die Filme von Wes Anderson am treffendsten charakterisieren kann. Von all den derzeit filmenden Andersons – Paul Thomas (There Will Be Blood), Brad (The Machinist) und Paul W. S. (The Three Musketeers) – besitzt Wes Anderson den unverwechselbarsten Filmstil, wird doch sein Werk von wiederkehrenden Obsessionen geprägt.

Im Mittelpunkt steht die Familie, als real existierende, ziemlich dysfunktionale Konstellation, die Leiden verursacht, und zugleich – als deren Gegenentwurf – als Sehnsuchtsort, nämlich als funktionierendes, das Individuum unterstützendes Sozialgefüge. Ein utopisches Konstrukt, fürwahr, denn Andersons Protagonisten sind allesamt ziemlich problembeladene Exemplare der Spezies Mensch.

In seinem Erstling Bottle Rocket planen zwei Freunde in der texanischen Provinz Einbrüche (unter anderem ins eigene Elternhaus), imaginieren sich als Profigangster und sind zugleich besessen von der Fernsehserie «Starsky & Hutch» (Hauptdarsteller und CoAutor Owen Wilson spielte dann acht Jahre später in deren Neuversion fürs Kino tatsächlich den Hutch an der Seite von Ben Stillers Starsky). Max Fischer in Rushmore stammt aus einfachen Verhältnissen und möchte an der gleichnamigen Eliteschule dazugehören; er glaubt, die junge Lehrerin, in die er sich verliebt, müsse ihn erhören, weil sie ihren Mann und er seine Mutter verloren hat – dabei erwächst ihm in einem reichen Philanthropen, der ihn unter seine Fittiche nimmt, allerdings Konkurrenz. In The Royal Tenenbaums ist es der Familienpatriarch, der vor Jahren seine Familie (die aus lauter frühreifen Wunderkindern besteht, die sich als Erwachsene in Selbstzweifeln und Depressionen verlieren) verlassen hat und jetzt behauptet, todkrank zu sein, um bei ihr wieder Aufnahme zu finden. In The Life Aquatic With Steve Zissou muss ein Mann, dessen Obsession für seine Arbeit als Unterwasserforscher alles beherrscht, sich mit einem Jungen herumplagen, der vielleicht sein Sohn sein könnte. In Darjeeling Limited sind es drei Brüder, die bei einer Zugreise durch Indien zueinanderfinden wollen; im Animationsfilm Fantastic Mr. Fox muss sich Mr. Fox die Frage stellen, wie er gleichzeitig ein guter Familienvater sein und dennoch seine kriminellen Beutezüge fortsetzen kann.

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Es sind, auch wenn die Filme sich in die Ferne (die Tiefen des Mittelmeeres, Indien) begeben, hermetisch abgeschlossene Welten, die Anderson entwirft. Das macht ihre Faszination aus, strahlt für manche Zuschauer zugleich aber auch eine gewisse Unnahbarkeit aus.

Die familiären Konstellationen haben ihre Entsprechung im Prozess des Filmemachens, für den sich Wes Anderson, vor und hinter der Kamera, seine eigene (Film-)Familie geschaffen hat. Vor der Kamera: Bill Murray, Luke Wilson, Anjelica Huston; hinter der Kamera: Robert Yeoman (als Director of Photography), Roman Coppola und Noah Baumbach (als Co-Autoren), Alexandre Desplat (Musik), Adam Stockhausen (Production Design), Andrew Weisblum (Schnitt), Kasia Walicka-Maimone (Kostümentwurf). Vor und hinter der Kamera agieren Owen Wilson (fünfmal als Darsteller / Sprecher, Co-Autor von Bottle Rocket, Rushmore und The Royal Tenenbaums) und Jason Schwartzman, (viermal als Darsteller / Sprecher; Co-Autor von Darjeeling Limited). Roman Coppola ist der Bruder von Sofia Coppola (deren Lost In Translation Bill Murray zahlreiche Auszeichnungen einbrachte), Jason Schwartzman (männlicher Hauptdarsteller in ihrem Marie Antoinette) als Sohn von Francis Ford Coppolas Schwester Talia Shire ist ihr Cousin. Dazu passt es, dass Schwartzman (in seinem Leinwanddebüt) als Max Fischer, Protagonist von Rushmore, eine Schulaufführung von Apocalypse Now einstudierte.

Moonrise Kingdom, Wes Andersons siebter abendfüllender Spielfilm (innerhalb von sechzehn Jahren) spielt im Jahr 1965 auf einer kleinen Insel vor der Küste von New England und erzählt von der seltsamen Romanze zwischen Suzy Bishop und Sam Shakusky, zwei Zwölfjährigen. Sam ist ein Waisenjunge, dessen Adoptiveltern ihm per Brief die Mitgliedschaft in ihrer Familie aufkündigen, als er sich den Sommer über in einem Pfadfindercamp befindet. Und er ist ein typischer Nerd mit Hornbrille, der sich von seinen Mitpfadfindern durch die Fellmütze abhebt, die er als einziger trägt; Suzy ist die Tochter aus gutem (wenn auch dysfunktionalem) Elternhaus mit einer Liebe für Fantasy-Geschichten und Françoise Hardy.

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Ihre Eltern sind zwei sich stets streitende Anwälte – während er (Bill Murray) in karierten Hosen ziellos durchs Haus läuft, ruft sie (Frances McDormand) die Kinder mit dem Megaphon zum Essen. Daneben hat sie noch eine Affäre mit dem örtlichen Polizisten, den Bruce Willis mit schütterem Haar, melancholischem Blick und einer gehörigen Portion Stoizismus verkörpert.

Im Sommer 1964, so erfahren wir in einer Rückblende, lernten sich Suzy und Sam kennen, als er bei einer Schulaufführung hinter die Bühne kam und ihr erklärte, der Rabe (den sie in dem Stück verkörpert) sei sein Lieblingsvogel. Danach schreiben sie sich ein Jahr lang, lassen den anderen an ihrem Leben teilhaben und fassen dabei den Plan, im folgenden Sommer gemeinsam auszureissen. Der Film zeigt das, mit den Stimmen von Suzy und Sam aus dem Off, verknappt zu einer Montage, die dabei doch so viel über das Aussenseitertum dieser beiden erzählt – das könnte in der Betonung der Macht des geschriebenen Wortes so auch von François Truffaut in Szene gesetzt sein.

Die gemeinsame Flucht der beiden setzt dann jene Apparate in Gang, denen das Wohl der Kinder am Herzen sein sollte, das Netz um das junge Paar zieht sich enger und enger zusammen, auch wenn unerwartet Verbündete auftauchen …

1965 ist das passende Jahr für diese Geschichte, kurz bevor sich Grundlegendes veränderte. Der neue Stil der frühen Sixties ist schon im Outfit von Suzy präsent, in ihrer Frisur, dem vielen Kajal um ihre Augen, dem tragbaren Plattenspieler, den sie auf die Flucht mitnimmt, und der Françoise-Hardy-Schallplatte, die sie so gerne hört – aber auf der anderen Seite erhebt sich der Schatten der bleiernen Fünfziger mit der rigiden Verfolgung abweichenden Verhaltens. Präsent in der Gestalt einer Frau von der Fürsorge (zu der passt, dass sie namenlos bleibt und sich nur als «Social Services» vorstellt), die in ihrem dunkelblauen, wallenden Umhang und mit ihrer Kopfbedeckung aussieht, als käme sie von der Heilsarmee, aber doch eher an die «wicked witch of the east» erinnert. Sie verkörpert für den Waisenjungen Sam die angedrohte Unterbringung im Heim, einschliesslich der Möglichkeit, ihn dort mithilfe von Elektroschocks auf den «rechten Weg» zurückzubringen.

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1965 war Wes Anderson (Jahrgang 1969) noch nicht geboren. Es ist eine imaginäre Welt, die er hier errichtet, so imaginär wie schon das New York von The Royal Tenenbaums, eben so, wie jemand, der in Texas aufwuchs, sich die Stadt nach der Lektüre von Autoren wie F. Scott Fitzgerald und J. D. Salinger vorstellte (so Anderson selber). Aber bei aller Imagination fliesst doch die Wirklichkeit in sie ein, ein autobiographischer Hintergrund (Anderson verbrachte selber einige wenige Wochen bei den Pfadfindern; seine Eltern liessen sich scheiden, als er acht war) und Momente, die die Idylle nicht nur von aussen bedrohen: Pfeil und Bogen sowie Messer kommen als Waffen bei den Kindern vor, Blut fliesst, es gibt einen Stich in die Milz und ein versehrtes Auge, nicht zuletzt auch einen toten Vierbeiner.

Moonrise Kingdom erzählt von verlorener Unschuld. Trotz des Happy Ends darf man an Nicolas Roegs Walk-about denken, in dem die denkwürdige Reise eines jungen Geschwisterpaares mit einem Aborigine durch den australischen Outback am Ende nur noch eine ferne Erinnerung der als Erwachsene in ihrer Hausfrauenexistenz aufgehenden Protagonistin ist.

Die beiden Zwölfjährigen mögen frühreif sein, aber sie sind es nicht auf so penetrante Art wie die frühreifen Genies aus The Royal Tenenbaums, eine gewisse Pragmatik ist ihnen eigen, etwa wenn Sam auf der Flucht die bei den Pfadfindern erlernten Fähigkeiten durchaus zugute kommen. Das Schweizer Fahrtenmesser, das die Pfadfinder bekommen (und das der Scout Master Mr. Ward bei seiner Degradierung wieder abgeben muss), symbolisiert die Liebe zur Bastelei, die Fantasy-Romane, die Suzy aus der Leihbibliothek entwendet hat, stehen für die Detailversessenheit – für deren Covergestaltung hat Anderson (wie man dem Nachspann entnehmen kann) eigens verschiedene Künstler engagiert.

Anderson selber findet das Märchenhaft-Phantastische allerdings nicht in solch fernen Fantasy-Welten, sondern in der Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten, die sich ihr eigenes Idyll schaffen – was auf der Karte nüchtern als «Gezeitenbucht Meile 3.25» verzeichnet ist, wird zu ihrem «Moonrise Kingdom». Zwischenzeitlich wird in absurder Höhe ein Baumhaus errichtet, und nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung steckt ein Motorrad in einem Baum fest. Dazu passt denn auch ein Erzähler, der mehrfach ins Bild tritt und sich direkt an den Zuschauer wendet. Bob Balaban verkörpert ihn mit leuchtend rotem Mantel und grüner Mütze – eine Märchenfigur.

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Vom «Coping with the very troubled child» (der Titel einer Broschüre, die Suzy zuhause auf dem Kühlschrank fand – so eine Broschüre fand am selben Ort auch Wes Anderson, er hatte zwei Brüder, aber er wusste, das galt ihm, erzählt er in Interviews) zum An-die-Hand-Nehmen (wie es Benjamin Brittens leitmotivisch eingesetzte Komposition «The Young Person’s Guide to the Orchestra» vormacht) vollzieht sich die Bewegung des Films. Eine Utopie? Vielleicht. Denn um sie zu realisieren, bedarf es eines Finales, das [bigger than life] ist.

Waren es in Andersons Regiedebüt Bottle Rocket allein die Figuren und die Situationen, die für Skurrilität standen, drückt sich diese seit <<Rushmore auch in der Inszenierung aus, die immer wieder das Artifizielle betont. Moonrise Kingdom etwa beginnt mit [tracking shots], die im Haus der Bishops die Wände zwischen den einzelnen Räumen überwinden.

Es ist allerdings keine totale Künstlichkeit, die den Film auszeichnet, denn Moonrise Kingdom spielt überwiegend draussen: die Natur hat ihre eigenen Unwägbarkeiten, die sich der Kontrolle entziehen. Das Finale des Films zelebriert dies geradezu: neben einem Blitzeinschlag (gleich zweimal) gibt es eine Flut, durch explodierende Feuerwerkskörper verursachtes Feuer und einen Sturm unerwarteten Ausmasses, der die Topografie der Insel für immer verändert – aber ihr im Jahr darauf auch eine mehr als reichhaltige Ernte beschert. Das dürfte die Anhänger von Andersons low key-Stil zunächst einmal befremden, aber gerade in dieser Überhöhung und Künstlichkeit führt der Film die dramatische Parallelmontage, ohne die kein Hollywood Ending auskommt, ad absurdum. Es ist diese Verbindung von Artifiziellem und Realistischem, die Wes Andersons Filmen ihre Eigenheit verleiht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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