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The End of Time

Zehn Jahre nach seinem preisgekrönten Gambling, Gods and LSD, einem vielbeachteten Essay über die Suche nach Transzendenz, widmet sich der kanadisch-schweizerische Regisseur Peter Mettler erneut einem schwer fassbaren Thema: der Zeit.

Text: Natalie Böhler / 01. Sep. 2012

Zehn Jahre nach seinem preisgekrönten Gambling, Gods and LSD, einem vielbeachteten Essay über die Suche nach Transzendenz, widmet sich der kanadisch-schweizerische Regisseur Peter Mettler erneut einem schwer fassbaren Thema: der Zeit. The End of Time ist eine filmische Reise quer durch die Welt, mit vielen verschiedenen Stationen. Mettler besucht Teilchenphysiker am CERN in Genf, die den Urknall zu reproduzieren versuchen, sowie einen abgeschotteten Bewohner von Big Island auf Hawaii, dessen Haus von Lavaströmen umgeben und von der Umwelt abgeschnitten ist. Weitere Reisen führen ihn nach Bodhgaya, zu Buddhas Erleuchtungsstätte in Nordindien, wo er Pilger beobachtet und zur Reinkarnation befragt; nach Detroit, Michigan, zu einem Trance-DJ und zu Hausbesetzern, die ein zerfallendes Quartier wiederbeleben; in ein Planetarium; und schliesslich nach Hause, in die Küche von Mettlers Mutter, die ihren Sohn ermahnt, seine Zeit gut zu nutzen.

Der Bogen, den der Film spannt, reicht sogar über die Erde hinaus ins Universum. Der Film beginnt mit Archivaufnahmen des Astronauten Joe Kittinger, der 1960 mit einem Fallschirm auf einer Höhe von 31 000 Metern aus einem Heliumballon sprang. Mettler unterbricht diese Geschichte hier und lässt Kittinger augenzwinkernd in der Schwebe, im freien Fall, bis wir am Ende des Films zu ihm zurückkehren. Erst als er sich den Wolken näherte, so das Voice-over, habe der Astronaut die Zeit wieder wahrgenommen – denn dafür sei ein Bezugspunkt notwendig, der im All gefehlt habe. Schon zu Beginn des Films setzt Mettler seinen Rahmen im Überirdischen, Kosmischen, und relativiert unsere Vorstellungen von Zeit und Zeiterfahrung.

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«Zeit bedeutet: Wir existieren», sagt ein Forscher des CERN. Dementsprechend ist Zeit eine Kategorie, jenseits derer wir eigentlich gar nicht, oder kaum, denken können. Was war, bevor etwas war? Gab es die Zeit jemals nicht? Existiert sie an und für sich oder nur in Relation zu Anderem? Wann endet die Zeit – mit dem Tod, mit der Ewigkeit? Gibt es die reine Gegenwart? Ist Zeit linear oder zyklisch?

Mettlers Interesse gilt weniger der Philosophie oder der Physik – weder Proust noch Heidegger kommen vor, und nur eine kleine Prise Einstein –, eher scheint es sein Anliegen zu sein, ein komplexes, abstraktes Thema nicht rein rational, sondern auch mit der Sinneswahrnehmung begreifen zu wollen. So sind etwa die Aufnahmen von rotglühenden Lavaströmen atemberaubend, gleichzeitig machen sie deutlich, dass selbst Gestein, das fest und ewigwährend scheint, sich verflüssigt, sich wandelt und altert. Verglichen mit geologischer Zeit sind menschliche Zeitrahmen um einiges beschränkter. Die Natur nimmt in Mettlers Reflexionen eine wichtige Rolle ein: Die Kräfte des Kosmos und die Kreisläufe der Natur, in die der Mensch eingebettet ist, weisen auf grössere Zusammenhänge hin.

Am Anfang gab es keine Namen, zitiert der Film zu Beginn einen Ursprungsmythos. Es geht in The End of Time nicht um das Erklären von Konzepten, Personen oder Begrifflichkeiten, sondern um das gedankliche Flanieren, von Neugier geleitet. The End of Time ist weniger ein klassischer Dokumentarfilm als ein Essayfilm: ein Versuch, ein Thema zu erschliessen, von verschiedenen Seiten her einzukreisen, und die Begriffe nicht zu definieren, sondern aufzuweichen. Der Bezugsrahmen des Essays ist global, und die Bedeutungsebenen des Gezeigten sind vielschichtig. Die oft assoziative Montage eröffnet gedankliche Zusammenhänge. So wird etwa eine hinduistische Kremationszeremonie nahtlos an Aufnahmen von Ameisen gereiht, die eine riesige tote Heuschrecke abtransportieren: Im Mikrokosmos spiegelt sich der Makrokosmos, und umgekehrt. Bemerkenswert ist, wie Mettler das Prinzip der Gleichwertigkeit einsetzt: Er arbeitet mit einem filmischen Blick, für den ein indisches Todesritual ebenso interessant ist wie die Vögel am Himmel und wie der Glacéwagen in Detroit, und der dennoch ruhig und leicht distanziert bleibt.

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Bei allem Nachsinnen über die Zeit wird schon früh klar, dass dieses Thema im Grunde bloss der Ausgangspunkt ist für Reflexionen über Metaphysik, das Universum und die Grenzen unseres Daseins. Zeit begrenzt das menschliche Leben, Werden und Vergehen wechseln sich ab, die Endlichkeit löst eine Sehnsucht nach dem Ewigen aus. Eigentlich dreht sich The End of Time, wie schon Gambling, Gods and LSD, erneut um die Suche nach Transzendenz und nach einem höheren Sinn – ein Thema, das sich von Beginn an durch Mettlers Werk zieht.

Auch das Kino als Zeitmaschine wird zum Thema. Mettler nutzt die spezifischen Mittel des Mediums: Zeitlupe und Zeitraffer kommen ebenso zum Einsatz wie Bilder, die rückwärts laufen und dadurch den Zeitfluss umkehren, lange kontemplative Einstellungen und rasante Schnittfolgen. Die hypnotische Endsequenz entstand mittels einer neu entwickelten Bildmisch-Software. In ihr überlagern sich teilweise mehrere Bildkanäle, wodurch eine Art synthetisierter, soghafter Bewusstseinsstrom entsteht. Immer wieder taucht in den Bildern die Kreisform auf. Dieses visuelle Motiv erinnert an ein Mandala, ein Meditationsbild aus der buddhistischen und hinduistischen Kunst, dessen Struktur auf konzentrischen Kreisen basiert. In der Tat ist The End of Time wie ein bewegtes Meditationsbild, das um ein offenes Zentrum kreist.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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