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Amour 01

Amour / Liebe

Amour heisst der neue Film von Michael Haneke. Das klingt zunächst nach Definition und Analyse, und wer Hanekes letzte Filme kennt, ist zunächst irritiert. Hier geht es nicht um das Erforschen der Liebe. Alles liegt offen da und muss nur erschaut und erlebt werden.

Text: Michael Ranze / 26. Sep. 2012

Es beginnt mit dem Ende. In einem Pariser Altbau drängeln sich mehrere Feuerwehrleute vor einer Wohnung, einer bricht mit einem Eisen die Tür auf. Schnell reisst jemand die Fenster auf, vor den Mund gehaltene Taschentücher zeugen von einem strengen, durchdringenden Geruch. Dann öffnet ein Beamter die Schlafzimmertür, die mit Klebeband geradezu versiegelt scheint. Auf dem Bett liegt, von Blumen umrandet, eine tote, greise Frau. Noch wissen wir nicht, wer sie ist, was passiert sein könnte. Doch über den Ausgang des Films besteht kein Zweifel.

Amour heisst der neue Film von Michael Haneke. Das klingt zunächst nach Definition und Analyse, und wer Hanekes letzte Filme kennt, von Code: inconnu, der das Fremde schon in sich trägt, über Caché, dem Verborgenen, bis zur Rätselhaftigkeit von Das weisse Band, ist zunächst irritiert. Hier geht es nicht um das Erforschen der Liebe. Alles liegt offen da und muss nur erschaut und erlebt werden. Haneke geht es um das Wesen der Liebe, um ihre Dauer, um ihren Bestand, um ihre Kraft, gerade auch im Alter, nach einer langen Zeit des Zusammenlebens. Was stellt die Liebe mit einem an? Was ist man bereit, für den anderen zu tun? Haneke beobachtet, wie Liebe gelebt wird. Er macht das ganz unsentimental und doch so feinfühlig, dass der Zuschauer mehr als einmal ergriffen zurückbleibt. Haneke hat seinen bislang menschlichsten Film inszeniert. Und seinen traurigsten. Doch weil er so bedingungslos auf die Liebe setzt, ist es auch sein hoffnungsvollster.

Die nächste Szene spielt in einem Konzertsaal, von der Bühne blickt die Kamera ins Publikum und lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei alte Menschen: Georges und Anne. Sie sind bereits über achtzig Jahre alt, kennen sich länger als ein halbes Leben. An ihrer Liebe zueinander hat das nichts geändert, wie ein kurzer Seitenblick beweist. Nach dem Konzert kehrt der Zuschauer mit ihnen in die Wohnung zurück: gross, geräumig, mit weiten Flügeltüren und durchgetretenem Parkett, alten Tapeten und vergilbten Gardinen. Am Fenster steht ein Klavier, die Musikanlage von Harman-Kardon stammt noch aus den siebziger Jahren und hat seitdem wohl nie ihren Dienst versagt. Es gibt weder Fernseher noch Computer, dafür eine Schreibmaschine. Detailgenau und ausführlich legt die Ausstattung von Jean-Vincent Puzos bloss, wie lange Georges und Anne hier bereits leben, was sie angesammelt haben an Dingen und wie diese Dinge sie charakterisieren, aber auch ihre Interessen und, sehr vage noch, ihre Berufe, die sie längst nicht mehr ausüben, umschreiben: Sie war früher einmal Pianistin, er Musikprofessor. Die Wohnung, die der Film kaum verlässt, wird so zum Ort mit Geschichte(n), an dem viel Musik gemacht und gehört wurde.

Amour 02

Am nächsten Morgen, beim Frühstückstisch, verharrt Anne starr und regungslos, unfähig, auf Georges besorgte Fragen zu reagieren, unfähig, sich später an ihren Blackout zu erinnern. Unvermittelt ist der Konflikt des Films gesetzt: Anne hat einen Schlaganfall erlitten. Als sie aus dem Krankenhaus zurückkommt, ist sie bereits auf den Rollstuhl angewiesen. Ihre Tochter Eva, verheiratet mit einem Engländer und vielgereiste Konzertpianistin, kommt zu Besuch. Isabelle Huppert, in einer Nebenrolle, spielt sie als verwöhnte, unzufriedene Frau. Für ihre Eltern hat sie kein Verständnis, der Tüchtigkeit des Vaters traut sie nicht, doch Verantwortung will sie – trotz des vorgespielten Interesses – auch nicht übernehmen. Warum er die Mutter nicht in ein Hospital bringe? Wie es nun weitergehen solle? «Es geht so weiter wie bisher», antwortet Georges seelenruhig, «bis es irgendwann zu Ende ist.» Von nun an wird Georges, nur gelegentlich unterstützt von einer ambulanten Pflegerin, Anne allein umsorgen: anziehen, Gang zur Toilette, Bewegungs- und Sprachübungen, füttern. Ein ehemaliger Klavierschüler, nun selbst erfolgreicher Pianist, kommt zu Besuch, Blumen in der Hand. Eines der wenigen Male, dass die Aussenwelt noch Zugang in diesen kleinen, abgeschlossenen Kosmos hat. Dann der zweite Schlaganfall. Anne kann das Bett nicht mehr verlassen, jetzt helfen nur noch Schnabeltassen bei der Ernährung, sie stöhnt, sie schläft, sie leidet. Und dann beweist ihr Georges ein letztes Mal seine Liebe.

Eine Liebe, die sich den ganzen Film über in kleinen Gesten und wenigen Worten äussert, Gesten der Aufmerksamkeit, des Respekts, des Verständnisses, der Fürsorge, des Schutzes und der Angst um den anderen. Je unerträglicher die Situation wird, desto näher rücken Mann und Frau zusammen. Wie der einundachtzigjährige Jean-Louis Trintignant und die fünfundachtzigjährige Emmanuelle Riva hier zusammenspielen, in diesem Zwiespalt aus körperlichem Verfall und seelischem Zusammenhalt, ist einfach bewundernswert. Nach seiner Uraufführung in Cannes ist amour von Kritikern als Geschenk Hanekes an die beiden grossen Schauspieler bezeichnet worden. Zwei Schauspieler, die auch ein wenig von dem Rollenprofil ihrer langen Filmographien mit einzubringen scheinen. Trintignant hat häufig scheue, undurchschaubare Männer gespielt, dann wieder entschlossene und tatkräftige in seinen besten Gangsterfilmen, in der Liebe auch mal unbeholfen und zögerlich – siehe Eric Rohmers Ma nuit chez Maud – oder schwach und obsessiv – siehe Bernardo Bertoluccis Il conformista. All das fliesst unmerklich in die Rolle des Georges mit ein. Emmanuelle Riva nimmt noch einmal ihr Leid aus Hiroshima mon amour auf. Ging es dort um die Schrecken des Krieges, geht es hier um die Schrecken des Alters, und zwar so eindringlich und anschaulich, so genau und auf den Punkt gespielt, dass man sich plötzlich als Zuschauer zu fürchten beginnt: Möchte man selbst so altern? Und wie ist das mit den eigenen Eltern? Oder nahen Verwandten? «Ich kann nicht mehr. Ich bin müde», sagt Anne einmal. Haneke macht diese Angst vor dem Alter fast körperlich spürbar, er setzt sich mit ihr auseinander, neugierig und interessiert. Das gibt seinem Film eine Qualität, die über das Kino hinausreicht: Was bedeutet es, alt zu werden – auch für den Zuschauer?

Natürlich gibt es in Amour noch Szenen, die man als «typisch Haneke» bezeichnen möchte, die irritieren und verstören, die nicht so recht zum Gesamtbild des Films passen wollen – obwohl sie es natürlich trotzdem tun. Einmal verweigert Georges seiner Tochter, die Mutter zu sehen, schliesst sogar die Schlafzimmertür ab und verhält sich höchst unangemessen. Erst als er seinen Schutzpanzer abgelegt hat, kann er über sich und Anne sprechen: «Wir wechseln Windeln. Wir üben sprechen, manchmal singen wir. Manchmal gelingt es mir, sie zu überzeugen, etwas zu trinken oder zu essen. Manchmal gelingt mir das nicht. Manchmal lacht sie. Dann weint sie wieder, ruft um Hilfe. Nichts davon ist es wert, erzählt zu werden.» Ein anderes Mal schmeisst er ohne viel Aufhebens eine Pflegerin raus, die Anne beim Kämmen weh getan und ihr sogar einen Spiegel vorgehalten hatte – obwohl Anne den Anblick ihres vom Alter gezeichneten Gesichts nicht erträgt. Die Art und Weise, wie sich die Entlassene wehrt, auf voller Bezahlung besteht und dann auch noch den alten Mann beleidigt, ist wieder «reinster Haneke». Einmal fliegt eine verirrte Taube durchs offenen Fenster und hüpft durch den Flur – bis Georges sie fängt und wieder in die Freiheit entlässt. Man muss die Symbolik der Szene gar nicht entschlüsseln, um sich über ihre Beiläufigkeit zu freuen. Und dann geht der Film mit einem kurzen Traum zu Ende: Anne steht in der Küche, Georges bindet sich auf ihr Drängen hin die Schuhe zu. Wie wird er weiterleben – ohne sie?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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