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Rosie 01

Rosie

Rosie. Wackere Rosie, selbständige Rosie, resolute Rosie. Und gütige Rosie, die der leicht zurückgebliebenen Chantal die Tür zu ihrer Wohnung ebenso freimütig und grosszügig öffnet wie dem jungen, schwulen Mario.

Text: Irene Genhart / 12. Juni 2013

Rosie. Wackere Rosie, selbständige Rosie, resolute Rosie. Und gütige Rosie, die der leicht zurückgebliebenen Chantal die Tür zu ihrer Wohnung ebenso freimütig und grosszügig öffnet wie dem jungen, schwulen Mario. Das, obwohl sie mitten im bieder-brav kleinbürgerlichen Altstätten, SG, lebt und die Allerjüngste nicht mehr ist. Und, ach ja: Ein bisschen launisch ist sie auch, die Titelheldin des neuen Films von Marcel Gisler. Vierzehn Jahre sind seit Gislers letztem Kinofilm F. est un salaud vergangen, einer herben, feinfühligen Verfilmung des gleichnamigen Kultromans von Martin Frank. Nun also Rosie, realisiert nach einem Drehbuch, das Gisler zusammen mit Rudolf Nadler schrieb. Es ist eine Geschichte ums Älter- und Altwerden, um das Leben im Alter. Eine Geschichte um unverhofft auftauchende Gebresten, die Rosie, die bisher stets mit beiden Beinen kräftig im Leben stand, das Fidelsein zunehmend vermiesen. Verheiratet war sie, zwei Kinder hat sie aufgezogen, nebenbei im Supermarkt Regale aufgefüllt. Das zu einer Zeit, als in der Schweiz noch lange nicht gang und gäbe war, dass eine Ehefrau und Mutter zuverdiente. Ein Hinweis auf die finanzielle Situation der Familie. Rosie ist aber auch eine Geschichte um Mutter und Sohn. Lorenz Meran, der erfolgreiche Schriftsteller, den es jung aus seiner Heimat vertrieb, lebt seit Jahren in Berlin, ist schwul und ein ferner Seelenverwandter des Fögi.

Lorenz wird gespielt von Fabian Krüger. Krüger, bis zu Der Sandmann (Peter Luisi, 2011) fast ausschliesslich auf der Bühne zu Hause, war eben erst in Werner Swiss Schweizers Verliebte Feinde in der Rolle des Schweizer Politikers, Juristen und Journalisten Peter von Roten anzutreffen. Er ist ein intensiver, charmanter, sensibler, kluger Schauspieler und spielt Lorenz mit Verve, aber auch mit Zerbrechlichkeit. Er habe in diesem Film zum ersten Mal «einen Mann gevögelt», hat Krüger im Interview gesagt, und dass Sibylle Brunner, welche die Rosie spielt, ganz grossartig – nein «zauberhaft», Krüger sagt immer «zauberhaft» – gewesen sei. Vor allem in der einen Szene, in der Lorenz von Berlin kommend in die Küche tritt, wo Rosie am Tisch sitzt und auf ihn wartet, da hätten ihm Sibylle Brunners Augen voll von mütterlicher Zuneigung entgegengestrahlt, zauberhaft sei das gewesen. Sibylle Brunner, Jahrgang 1939, kommt wie Fabian Krüger vom Theater. Sie war letztes Jahr in «Die Präsidentinnen» von Werner Schwab in Bern, davor in «Alterweiberfrühling», der Theaterversion von die herbstzeitlosen, in Bern und Zürich zu sehen. Lang ist die Liste ihrer Theaterauftritte, kurz ihre Filmografie: Kinder der Landstrasse (Urs Egger, 1994) steht da etwa und 4 Geschichten über Tote (Lars Büchel, 1998). Und nun spielt sie die Rosie: grossartig, sensibel, burschikos und wurde dafür prompt – und sehr verdient – mit dem Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Rosie 02

Rosie ist Witwe und lebt allein in der Wohnung, in der sie «schon immer» hauste. Zum Auftakt von Gislers Film aber, just als im Fernsehen der neue Roman ihres Sohnes besprochen wird, erleidet sie einen Schlaganfall. Der Briefträger, erzählt sie später dem aus Berlin angereisten Lorenz und dessen in Sankt Gallen lebender Schwester Sophie, habe sie gefunden und ins Spital gebracht. Da liegt sie nun, blass und erschrocken. Sie kommt zwar alsbald wieder auf die Beine, doch das Leben ist nicht mehr, wie es vorher war. Etwas tatterig ist Rosie und sollte auf Anraten der Ärzte auf Zigaretten und Alkohol verzichten. Lorenz und Sophie sorgen sich. Doch Rosie will ihre Katze, ihre Wohnung, ihre Selbständigkeit, ihren Frieden, ihre Freiheit behalten. Da lässt sich wenig ausrichten, wenn man Kind und es gewohnt ist, dass Mutter das Sagen hat.

Entlang der in Abständen von Wochen und Monaten erfolgenden Besuche von Lorenz in der Schweiz lässt Gisler die Story sich entwickeln und zeigt zwischen den einzelnen Episoden jedes Mal ein Stück des Wegs, den Lorenz zwischen Berlin und Altstätten zurücklegt. Damit schreibt sich in Rosie die Reise eines “verlorenen” Sohnes zurück in die Heimat ein. Sie spiegelt nicht nur Lorenzens späte (Wieder-)Annäherung an seine Mutter und Schwester, sondern auch an den verstorbenen Vater, der in seinen letzten Jahren seinen Kindern offensichtlich fremd gewordenen war. Sie spiegelt auch die Biografie von Marcel Gisler, der, in Altstätten aufgewachsen, in den achtziger Jahren zu Studienzwecken nach Berlin zog und da – auch wenn er öfters in der Schweiz anzutreffen ist – noch heute lebt. Sie hätten, hat der derzeit in Wien engagierte Krüger gesagt, als sie in Altstätten zusammen diesen Film drehten, alle in der gleichen Situation gesteckt: er, Gisler und Lorenz Meran. Lorenz nun also entdeckt bei jedem Besuch, jeder Auseinandersetzung, die er mit Rosie führt, eine neue kleine Wahrheit. Über sich, seine Familie, die Eltern – aber auch über Mario, der sein Freund sein möchte und mit dem er schläft, danach aber nicht mehr weiterweiss.

Es ist keine reisserische Story, die Gisler in Rosie auftischt, sondern die sorgfältige Schilderung der steten Veränderung, die Leben bedeutet. Er zeigt die grossartige Fähigkeit der Menschen zur Adaption, die selbst Rosie, die sich mit Händen und Füssen gegen ihren Einzug ins Seniorenheim wehrt, sich mit ihrer Situation arrangieren lässt. So schreibt sich denn Rosie ein in eine humanistische Filmtradition, die sich weniger im derzeitigen Deutschschweizer Filmschaffen zeigt, als vielmehr im Werk eines Rainer Werner Fassbinder oder aber in Filmen des vor gut vierzig Jahren noch Neuen Schweizer Films.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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