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Snowpiercer 01

Snowpiercer

Es ist eine dieser Anekdoten, die man nicht überprüfen kann: Als der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho in einem Buchladen in Seoul die Graphic Novel «Le Transperceneige» aus dem Regal nimmt, soll er noch im Geschäft alle drei Bände verschlungen haben. 2005 war das. 2010 beginnt das Schreiben am Drehbuch, im Juli 2012 enden die Dreharbeiten. Snowpiercer hat Bong nicht mehr losgelassen.

Text: Michael Ranze / 23. Apr. 2014

Es ist eine dieser Anekdoten, die man nicht überprüfen kann. Sie muss aber auch gar nicht stimmen, weil sie stellvertretend für etwas anderes steht, für Begeisterung und Interesse: Als der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho, in Europa bekannt geworden durch The Host (2006) und Mother (2009), in einem Buchladen in Seoul die Graphic Novel «Le Transperceneige» von Jean-Marc Rochette aus dem Regal nimmt, soll er noch im Geschäft alle drei Bände verschlungen haben. 2005 war das. 2010 beginnt das Schreiben am Drehbuch, im Juli 2012 enden die Dreharbeiten. Snowpiercer hat Bong nicht mehr losgelassen, es ist sein erster englischsprachiger Film, als internationale Koproduktion ausserhalb des Studiosystems entstanden, zum grossen Teil auf mehreren Soundstages in Tschechien gedreht. Und doch ist es wieder ein typischer “Bong Joon-ho” geworden: visuell atemberaubend, thematisch anspruchsvoll, stilistisch ungewöhnlich.

Die Eiszeit, die die ganze Erde wie ein weisser Mantel umhüllt und jedes Leben ausgelöscht hat, ist vom Menschen selbst verschuldet. Einige Tausend Überlebende haben sich auf einen endlos langen Luxuszug mit zahllosen Waggons gerettet, den «Snowpiercer». Eine Arche Noah, die sich «wie eine Schlange um die Erde windet», so der Regisseur. Oder sich schlicht und einfach ohne Halt und ohne Ziel im Kreis um den Globus dreht. Dieser Zug ist reine Bewegung (und reflektiert somit einen der wichtigsten Momente des Kinobildes), dieser Zug zelebriert – wie Arthur Hillers Trans-Amerika-Express, Andrej Konchalowskis Runaway Train oder zuletzt Tony Scotts Unstoppable – Die Wucht der Maschine. Der «Snowpiercer» ist ein imposantes, losgelassenes Ungetüm, das wie ein Perpetuum mobile nicht halten kann. Oder darf. Denn ein Stop bedeutete den unmittelbaren Kältetod. Eine Dynamik, die sich auf die Handlung überträgt: nur nach vorn, nicht zurück. Und so, wie auf James Camerons «Titanic» die sozialen Klassen vertikal, von oben nach unten, gestaffelt waren, sind sie es hier horizontal, von vorne nach hinten: die Reichen an der Spitze, die Armen am Ende. Und hier, im letzten Waggon, beginnt die Erzählung. Zahlreiche Menschen in schäbiger Kleidung sind auf engstem, dunklem Raum zusammengepfercht, so, als seien sie einem Dickens-Roman entsprungen. Keine Fenster, keine Möbel, nur übereinandergezimmerte Pritschen erlauben so etwas wie Rückzug. Ernähren müssen sie sich von glibberigen Riegeln, die wie zurechtgeschnittener Wackelpudding aussehen. Unhaltbare Zustände, die auf eine unsichtbare, nicht greifbare Diktatur verweisen, gegen die nur eine Revolte hilft. So führt Curtis den Widerstand an, unterstützt von seinem Adjutanten Edgar und bestärkt durch handschriftliche, im Essen versteckte Botschaften, die auf Mithelfer in der Mitte des Zugs verweisen. Mit selbstgemachten Waffen brechen die Revoluzzer nach vorne durch, von Waggon zu Waggon. Das dramaturgische Korsett des kleinen, klaustrophobisch-bedrohlichen Schauplatzes, der stets in Bewegung ist, öffnet sich plötzlich zu mehr Handlungsraum und helleren, bunteren Welten.

Snowpiercer 02

Das Konzept des Films: Der Zuschauer weiss immer genauso viel oder eher weniger als die Beteiligten. Die Tür zum nächsten Waggon öffnet sich wie eine Wundertüte, die man so nicht erwarten konnte, und erst nach und nach ergibt sich das Gesamtbild eines Ökosystems, das sich selbst versorgt. Da gibt es ein üppiges grünes Gewächshaus, ein grosses, blaues Aquarium, sogar eine rote Schulklasse, in der die Schüler, die im Zug geboren sind und die Aussenwelt nie kennengelernt haben, von einer Matrone indoktriniert werden. Immer dekadenter wird die Ausstattung der Waggons, je weiter die Revolutionäre nach vorne durchkommen, immer dekadenter die Reichen, die sie bewohnen. Und endlich gewähren auch Abteilfenster den Blick auf die blendend weisse, aufregend schöne und doch so lebensfeindliche Landschaft. Ein Panorama, das den Blick des Zuschauers auf die Leinwand imitiert und somit die Kinosituation des Schauenden selbstreflexiv untersucht.

Doch hier geht es nicht nur um innere und äussere Räume, sondern auch um Menschen, die die Handlung behindern oder vorantreiben, um präzis umrissene Charaktere, ihre Geschichte und ihre Beweggründe. Nicht von ungefähr wird Curtis von Chris Evans dargestellt, der als «Captain America» und Mitglied der «Avengers» ein ganzes Paket an Mythen der Aufrichtigkeit und Unbesiegbarkeit mit sich trägt. Moralisch unterstützt wird Curtis von seinem weisen, körperlich versehrten Mentor Gilliam (John Hurt, 74, in einer schönen Altersrolle), der als Einziger den gottähnlichen Erfinder des Zuges kennt und um das Chaos der Anfänge weiss. Tilda Swinton hingegen spielt Mason, eine Ministerin, die über gesichtslose, schwarz gekleidete Söldner gebietet, als Karikatur einer Gouvernante mit Pferdegebiss, strenger, konservativer Kleidung, grosser Brille und absurdem Akzent. Der Kampf gegen ihre hochgerüstete Leibwache sorgt für die ungewöhnlichste Actionszene des Films. Während der Zug durch einen Tunnel rast, ist Curtis’ Männern die Sicht verwehrt. Sie müssen sich, genau wie der Zuschauer, akustisch ein Bild machen: Gewehrschüsse, aufeinanderprallendes Schlagwerk, tropfendes Blut. Wie Bong diese Szene auflöst, ebenso gewitzt wie überraschend, ist schon ein kleiner Geniestreich. Wie auch das Ende, das sich als Traktat über die Grausamkeit des Menschen lesen lässt – nicht ohne Hoffnung zu verbreiten. Mit einem Mal ist es draussen auch nicht mehr ganz so kalt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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