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Durak 01

Durak

Ein Film nicht zuletzt für «Russlandversteher» und solche, die es werden möchten. Ein Blick ins Innere jenes ewigen Russland der Willkür, Rechtlosigkeit und Unterdrückung, des Terrors, Mords und Totschlags, in jenes Russland, das bereits im achtzehnten Jahrhundert die Potemkinschen Dörfer ersann und seither, in wechselnden Erscheinungsformen, die Methoden des Vortäuschens, der Lüge, der rücksichtslosen Durchsetzung des Rechts des Stärkeren zur Perfektion entwickelt und je nach Erfordernis modifiziert hat.

Text: Christoph Egger / 21. Jan. 2015

Ein Film nicht zuletzt für «Russlandversteher» und solche, die es werden möchten. Ein Blick ins Innere jenes ewigen Russland der Willkür, Rechtlosigkeit und Unterdrückung, des Terrors, Mords und Totschlags, in jenes Russland, das bereits im achtzehnten Jahrhundert die Potemkinschen Dörfer ersann und seither, in wechselnden Erscheinungsformen, die Methoden des Vortäuschens, der Lüge, der rücksichtslosen Durchsetzung des Rechts des Stärkeren zur Perfektion entwickelt und je nach Erfordernis modifiziert hat. In jenes Russland des Kampfs der jeweils herrschenden Klasse – am brutalsten und zynischsten während der siebzig Schreckensjahre totalitärer Verlogenheit, in denen die Klassengesellschaft «überwunden» war – um Machterhalt und Machtgewinn, kurz: in die endlose Spirale aus Günstlingswirtschaft, schamloser Bereicherung und allumfassender Korruption, gestützt seit Zarenzeiten durch einen aus Polizei, Geheimpolizei, Gerichtswesen und Lagersystem gebildeten Unterdrückungsapparat.

Zu den Folgen dieser die ganze Gesellschaft durchwuchernden Strukturen gehören unter anderem eine vollkommene Lethargie in Tateinheit mit besinnungslosem Wodkakonsum auf der Seite der Verlierer sowie eine entweder bandenmässig oder dann in politischen Allianzen organisierte Kriminalität, wobei sich die Bereiche ganz zwanglos überlappen. Womit wir beim hier anzuzeigenden Film wären, der das oben Gesagte weniger «entlarvt» denn als allgemein bekannt voraussetzt, der unerträgliche Verhältnisse weniger denunziert denn vielmehr als faktische Wirklichkeit evident macht. «Durak» bezeichnet landläufig einen Dummkopf und ist offenbar auch der Name für ein Kartenspiel, bei dem derjenige als Verlierer, Tölpel, dasteht, der als Letzter noch eine Karte hält. In Juri Bykows Film ist der Dummkopf schnell identifiziert: Dmitri Nikitin, mit Kosenamen Dima, ein junger Familienvater, der mit Frau und kleiner Tochter noch immer bei den Eltern wohnt. Vorarbeiter beim technischen Dienst einer jener Hunderte anonymer kleiner Städte irgendwo im Riesenland, hat Nikitin zum Missfallen seiner Frau auch noch ein Ingenieurstudium angefangen, anstatt sich, wie alle andern, endlich um seine Angelegenheiten zu kümmern: seine Familie und den eigenen Profit.

Durak 02

Als ihm ein geborstenes Leitungsrohr in einer Wohnung gemeldet wird, realisiert er nach einem Augenschein und Berechnungen, die er, nachts aufschreckend, anstellt, dass das gesamte «Wohnheim Nr. 32» mit seinen über achthundert Bewohnern unmittelbar vor dem Einsturz steht. Anstatt den Dingen ihren Lauf zu lassen, wie es jeder vernünftige Russe tun würde, macht sich Nikitin unverzüglich auf, die Stadtoberen zu informieren, die sich versammelt haben, um üppig den fünfzigsten Geburtstag Nina Galaganowas, ihrer Bürgermeisterin, zu feiern. Da sich Nikitin nicht verscheuchen lässt und angesichts des drohenden politischen Skandals, kommt es zur Krisensitzung, an der die bereits fortgeschritten betrunkene Bande nach Kräften versucht, Nikitin lächerlich zu machen und seine fachliche Kompetenz in Zweifel zu ziehen. In der Folge konzentriert sich der Film auf die Dekadenz dieser Provinznomenklatura, die, um die eigene Haut zu retten, bedenkenlos Mitwisser eliminiert. Dass Dima in der Winternacht einem Erschiessungskommando unten am Fluss entgeht, hat er seiner Irrelevanz und, immerhin, der Grossmut eines der Politiker zu danken. Wenn allerdings Nina sich so etwas wie ein Gewissen zuzulegen versucht, wird sie von ihrem politischen Mentor und wohl Hintermann aus nächsthöheren Zirkeln als Missgeburt und Schlampe beschimpft. Um Menschen gehe es? Das sei Müll, Abschaum, «gäbe es weniger solcher Wohnheime, wäre die Welt sauberer».

Mit Entrüstung angesichts solcher Äusserungen liesse sich allenfalls bei einem westlichen Publikum punkten (das durak am letztjährigen Filmfestival Locarno denn auch den Preis der Ökumenischen Jury sowie denjenigen des besten Hauptdarstellers verliehen hat). Doch Bykow kennt die Verhältnisse zu gut, um simpel zu moralisieren. Nicht nur, dass er die Bewohner des Wohnblocks die nämliche Terminologie auf sich selber anwenden lässt: Zu Beginn, wenn ein übler Säufer, der sich später als für den Gebäudeunterhalt zuständig herausstellt, die Frauen seines Haushalts grün und blau schlägt, macht er deutlich, dass hier wirklich menschlicher Abschaum zugange ist. Dabei gewinnen die disziplinierten Darsteller einen Grad an äusserer Glaubwürdigkeit, der an diejenige der (teilweise echten) Mafiakomparsen in Garrones Gomorra erinnert, auch wenn Durak insgesamt nicht dessen Format besitzt.

Ebenso suggeriert der Film aber auch keine Lösung des Problems, schon gar keine wohlfeile. Seine Qualität liegt in der ungeschminkten Darstellung der Verhältnisse, so wenig elaboriert er filmdramaturgisch auch immer sein mag. Bis ins Mark verrottet, dies eine pessimistische mögliche Schlussfolgerung, ist dieser Gesellschaft nicht einmal mit einem «Erlöser» zu helfen. So bleibt auch die Frage offen, ob Dimas selbstlose Aufopferung, seine Versuche, unter Gefährdung des eigenen Lebens Menschen zu retten, die gar nicht errettet werden wollen, sinnvoll sind, ob er sich nicht tatsächlich besser der Sicherheit seiner Familie widmete. Trotz der unübersehbaren Parallele zu Jesu Passionsgeschichte am Schluss ist Durak kein explizit religiöser Film. Seine Titelfigur allerdings reiht sich ein in die Galerie jener Jurodiwy, der «Narren in Gott», denen Dostojewskis «Idiot» in Fürst Myschkin das unvergängliche literarische Denkmal errichtet hat.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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