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Köpek

Esen Işık entwirft ein düsteres Porträt der heutigen türkischen Gesellschaft. «Köpek» bedeutet auf Türkisch «Hund», und es ist ein kleines Hündchen, das in Işıks erstem Langspielfilm wenigstens vorübergehend bekommt, wonach sich alle Figuren ihres Episodenfilms sehnen: Liebe und Geborgenheit.

Text: Tereza Fischer / 12. Dez. 2015

«Köpek» bedeutet auf Türkisch «Hund», und es ist ein kleines Hündchen, das in Esen Işıks erstem Langspielfilm wenigstens vorübergehend bekommt, wonach sich alle Figuren ihres Episodenfilms sehnen: Liebe und Geborgenheit. Beim unerlaubten Verkaufen von Taschentüchern, für das sie die Schule schwänzen, finden der zehnjährige Cemo und sein Freund Mehmet einen Welpen, dessen Mutter gerade überfahren worden ist. Sie nehmen sich seiner an; allerdings darf Cemo den Hund nicht behalten. Die Familie hat kein Geld, der Vater ist ein brutaler Alkoholiker, der seinem Sohn das bisschen hart verdiente Geld abnimmt.

Der Junge ist eine von drei Hauptfiguren, die in Köpek durch Ort und Zeit miteinander verbunden sind. Es ist ein gewöhnlicher Tag in Istanbul. Ein Tag, der für alle drei tragisch enden wird. Cemo versucht, mit seinem Schwarm, einem aus besserem Hause stammenden Mädchen, ins Gespräch zu kommen, wird aber von der Polizei drangsaliert. Gedemütigt und verzweifelt lässt Cemo sich zu einer verhängnisvollen Tat provozieren. Hayat ist mit einem possessiven und gewalttätigen Mann verheiratet. Als er herausfindet, dass sie sich mit ihrem früheren Verlobten getroffen hat, kann sie sich auch mit ihren Beteuerungen, es sei nichts geschehen, nicht retten. Die transsexuelle Ebru prostituiert sich und kämpft um die Liebe eines Mannes, der zwar viel für sie empfindet, aber sich feige für das normale Leben entscheidet. Auch für Ebru endet dieser Tag verheerend mit einem brutalen Überfall von Homophoben.

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Die sonst parallel geführten Handlungsstränge kreuzen sich ein einziges Mal – am Bosporus, der Istanbul in einen europäischen und einen asiatischen Teil entzweit. Dabei wird nicht die Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen und Lebensstilen in den Vordergrund gestellt, sondern das Trennende und Ausgrenzende. Die drei Protagonisten gehören je zu einer unterdrückten sozialen Gruppe. Sie kämpfen jedoch mutig und unbeirrt für Liebe und Würde. In einer von Männern dominierten Gesellschaft, in der Gewalt gegenüber Frauen alltäglich ist und toleriert wird, Homosexuelle mit Füssen getreten werden (hier wortwörtlich) und Kinder aus unteren Schichten nicht die gleichen Chancen erhalten wie ihre wohlhabenden Altersgenossen, müssen sie jedoch scheitern.

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Die türkischstämmige Schweizerin entwirft ein düsteres Porträt der heutigen türkischen Gesellschaft. Obwohl ihre Figuren eher symbolischen Charakter haben, sind sie feinfühlig und liebevoll gezeichnet. Dass sie gar eine erstaunliche emotionale Tiefe und grosses Sympathiepotenzial entwickeln, ist zum grossen Teil den Darstellern geschuldet. Der elegante Transsexuelle Çağla Akalın besticht durch seine herausfordernde und stolze Haltung, während Beren Tuna als Hayat leise in Hilflosigkeit erstarrt. Das Ereignis sind aber die beiden Knaben, die von den beiden Laien Oğuzhan Sanca und Bekir Sevenkan verkörpert werden. Wie den mutterlosen Welpen möchte man sie am liebsten adoptieren und ist dem älteren Ladenbesitzer, der ihnen gegenüber Verständnis und Empathie entgegenbringt, dankbar für einen Schimmer menschlicher Wärme.

Inspiration für den Film waren für Işık zwei tragische Ereignisse: zum einen der Tod der italienischen Performancekünstlerin Pippa Bacca, die 2008 in einem Hochzeitskleid für den Frieden von Rom nach Palästina reiste und in Istanbul vergewaltigt und getötet wurde. Zum anderen wurde Işık Zeugin eines Autounfalls, bei dem ein streunender Hund überfahren wurde, die Mutter eines kleinen Welpen. Während der Hund es in den Filmtitel geschafft hat, ist Pippa Bacca mit einer Strassenkünstlerin im Hochzeitskleid eine Reverenz erwiesen.

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Trotz des überzeugten gesellschaftskritischen Engagements erzählt der Film unaufgeregt. Die Bilder sind nüchtern und vermitteln doch eine subtile Künstlichkeit, etwa durch eine Beinah-Überbelichtung, als solle alles ans Licht kommen, oder durch elaborierte Kadrage. Wenn etwa Hayat am Anfang mit ihrem Mann geschlafen hat, küsst er sie liebevoll. Danach sind sie nur als isolierte Spiegelbilder zu sehen, im gleichen Raum, aber voneinander getrennt und auf Distanz gebracht. Das Schlafzimmer ist in warme Orange- und Rottöne gehüllt, als wäre es ein Ort der Liebe, doch dieselben Farben wandeln sich am Ende zu Zeichen des Todes, wenn das Licht von Strassenlaternen schwach ins Wohnzimmer fällt und das rote Blut zwischen Hayats Fingern durchsickert. Auch in den beiden anderen Geschichten fliesst Blut. Es wird am Ende mit einem Wasserschlauch von der Strasse gespritzt, als wäre nichts geschehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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