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Room

Room erzählt die ebenso beklemmende wie kraftvolle Geschichte von Ma, die mit ihrem Sohn Jack über Jahre hinweg in einem Zimmer von neun Quadratmetern leben muss und trotzdem versucht, ihm eine unbeschwerte Kindheit zu bescheren. 

Text: Michael Ranze / 07. Mär. 2016

Der Raum, den der Originaltitel meint, ist nur neun Quadratmeter gross. Ein Bett, ein Tisch, eine Kochnische, ein Schrank, ein Stuhl, ein Fernseher. Ein Fenster gibt es nicht, dafür ein Oberlicht, das wenigstens tagsüber für Helligkeit sorgt und einen Blick in den Himmel und Erkenntnisse über das Wetter ermöglicht. Die unmittelbare Umgebung lässt sich so nicht erkunden. Zwei Menschen leben hier: der fünfjährige Jack, der wegen seiner Haare, die fast bis auf den Po hinunterreichen, wie ein Mädchen aussieht, und seine 26-jährige Mutter. Sie spielt mit ihm, kocht, erklärt ihm die Welt, zum Beispiel das verwelkte Blatt, das auf das Oberlicht geweht worden ist. Noch weiss der Zuschauer nicht, warum Mutter und Kind auf so kleinem Raum zusammengepfercht leben. Aus dem liebevollen Umgang zu schliessen, scheinen sie ein normales Leben zu führen. Doch dann schwere Schritte, eine Männerstimme, und der Bub muss über Nacht in den Schrank. Und jetzt erfahren wir auch, was passiert ist: Vor sieben Jahren wurde Jacks Mutter von «Old Nick», wie Jack ihn nennt, entführt, in einen Schuppen gesperrt und seitdem unzählige Male vergewaltigt. Jack ist in diesem Raum gewaltsam gezeugt worden, er ist hier geboren, und seine Mutter hat für ihn aus diesen neun Quadratmetern ein eigenes Universum erschaffen. Das Gewaltsame, das Erschütternde ihrer Situation enthält sie ihm vor; Jack soll normal und sorgenfrei aufwachsen. Doch als sich die Möglichkeit zur Flucht bietet, zögert sie keine Sekunde.

Nach dem Bestseller von Emma Donoghue, die auch das Drehbuch schrieb, erzählt Regisseur Lenny Abrahamson, der mit der skurrilen Komödie Frank bekannt geworden ist, die beklemmende Geschichte einer jahrelangen Gefangenschaft, die auf den wahren Fall des Österreichers Josef Fritzl und seiner 24 Jahre lang gefangen gehaltenen Tochter Elisabeth zurückgeht. Eine Gefangenschaft, die man sich gar nicht vorstellen kann: Isolation, Einsamkeit, Hunger, Kälte, Demütigungen und Missbrauch, von der gestohlenen Jugend ganz zu schweigen – was für ein Horror. Sherry Hormanns 3096 Tage (über das Schicksal von Natascha Kampusch) haderte vor drei Jahren mit dem Dilemma, dass sich dieses Leid nicht einfach für eine «Geschichte», für einen narrativen Spielfilm, der unterhalten und packen soll, aufbereiten liess. Das eigentliche Grauen lässt sich nicht deutlich machen.

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Donoghue und Abrahamson gehen darum mit Room einen anderen Weg. Nach der Befreiung von Mutter und Kind ist der Film erst zur Hälfte um. Der enge Raum, vom Cinemascope klaustrophobisch eingefangen, öffnet sich dem Licht und der Weite. Die hermetische Ersatzwelt, in der das Leben auf die allernötigsten Bedürfnisse heruntergebrochen wird, öffnet sich zur realen Welt mit all ihren Perspektiven und Möglichkeiten, aber auch Gefahren. Eine Öffnung, mit der auch eine Verschiebung der Erzählführung verbunden ist. War in der ersten Stunde noch Ma die Hauptfigur, die «Raum» (das Substantiv wird immer ohne bestimmten Artikel genannt) als sich selbst genügend, ohne Aussenwelt, definierte, so ist es in der zweiten Hälfte Jack, der eben diese Aussenwelt neugierig erforscht. Der Film nimmt nun vollends seinen Blickwinkel ein. Das führt auch zu einer Verschiebung der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Während Jack in der ersten Hälfte auf seine Mutter angewiesen war, wird er in der zweiten immer unabhängiger. Er hat die Grausamkeit der Gefangenschaft nicht verstanden. Darum kann er loslassen. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die den Horror, in den sie willkürlich geraten ist, nicht verwindet und darum zunächst nicht ins Leben zurückfindet. Es ist diese Dynamik, die aus Room eine so faszinierende Studie macht über Kinder und die Art, wie sie sich die Welt erschliessen. Sie verlassen sich auf das, was ihnen die Erwachsenen erklären.

Room ist für vier Oscars nominiert, für den besten Film, die beste Regie, das beste Drehbuch und die beste Darstellerin, und wie Brie Larson die gepeinigte Frau darstellt, die ihrem Sohn trotz der Gräuel eine normale Mutter sein muss, und die komplexe Psychologie des Dramas herausarbeitet, ist bewundernswert. Auch der kleine Jacob Tremblay überzeugt durch sein natürliches, unangestrengtes und glaubwürdiges Spiel. Am Schluss gibt Jack, mit einer wundervollen Geste, über die an dieser Stelle nichts verraten werden soll, seine ganze Stärke an seine Mutter weiter, der Kreis schliesst sich. Room: ein ebenso beklemmender wie kraftvoller, vor allem aber schöner Film.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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