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Aquarius

Mendonça Filho stellt mit seinem Film der brasilia­nischen Gesellschaft eine präzise ­Diagnose und lässt seine Protagonistin Clara für das Recht auf ­Erinnerung kämpfen.

Text: Patrick Straumann / 09. Jan. 2017

«Hoje» – heute – heisst der Song von Taiguara, der die Eröffnungsszene begleitet, und doch ist das erste Kapitel von Aquarius 1980 angesiedelt: Clara, Anfang dreissig, kehrt nach einem Ausflug in ihre Wohnung zurück, wo sie mit ihrer Familie den siebzigsten Geburtstag ihrer Tante Lúcia feiert. Die Kinder kämpfen sich durch kurze Texte, die an das engagierte Leben der Grosstante erinnern, anschliessend ergreift Claras Mann das Wort, um seiner Frau, die eben einen Brustkrebs überlebt hat, eine bewegende Liebeserklärung zu machen. Es seien schmerzhafte Monate gewesen, schliesst er seine Rede, allerdings sei die jüngere Zeit nicht nur für sie, sondern auch «für die Familie und das Land» schwierig gewesen.

Beruhte O Som ao Redor, der erste Spielfilm von Kleber Mendonça Filho, auf einer offenen Erzählstruktur, so baut Aquarius auf die klassische Form: Die drei Kapitel des Films sind allegro, andante und vivace gehalten, Barry Lyndon nicht unähnlich, dessen vergilbtes Plakat Claras Wohnzimmer ziert, als der Film nach der Rückblende schliesslich in die Gegenwart springt. Und wenn die erwähnten schwierigen Zeiten auf die Anfang der Achtzigerjahre ausklingende Militärdiktatur anspielen, konzentriert sich Aquarius in der Folge auf eine private Frontlinie: Clara, die sich in der Zwischenzeit als Musikkritikerin einen Namen gemacht hat und nun die Züge des brasilianischen Filmstars Sonia Braga trägt, soll aus ihrer Wohnung vertrieben werden, damit das ältere Wohnhaus (das titelgebende Edifício Aquarius) an der Strandavenue von Recife einem rentablen Immobilienprojekt weichen kann.

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Wohlerzogen und von geschliffener Höflichkeit haben Diego und sein Grossvater Geraldo, der Inhaber der Baufirma Bonfim, wenig gemein mit dem Unterdrückungsapparat, der die brasilianische Opposition während der bleiernen Jahre ins Gefängnis oder ins Exil getrieben hatte. Als Vertreter eines aufstrebenden Mittelstands, der in den Deregulierungen der Wirtschaft seine Gewinnchancen wittert, sind die Unternehmer jedoch in einer Machtposition, der die korruptions-tolerante Politik nur selten Grenzen setzt. Einen Hinweis auf die zunächst verhaltene und später offene Aggressivität, mit der Diego seine Kaufofferten formuliert, liefert das Schild am Meeresstrand, das vor Haien warnt (eine ironische Umschreibung seiner Skrupellosigkeit folgt in der Szene, in der Clara ihrem Enkel das Märchen von Rotkäppchen vorliest).

Der Widerstand, mit dem Clara auf die Sirenengesänge und Provokationen reagiert, verleiht Aquarius nicht nur seine moralische Fluchtlinie, sie gibt auch der Dramaturgie den Takt vor. Die Gymnastik, die sie morgens absolviert, nimmt sich in den Nahaufnahmen wie ein Kampfsport aus; später wird sie sich gegenüber ihren Kindern behaupten müssen, die, finanziell interessiert, aber auch um das Wohl der Mutter besorgt, ihr anraten, das Haus, das sie mittlerweile allein bewohnt, zu verlassen. Unverhohlen drohend tritt auch der Sohn eines ehemaligen Nachbarn auf, der ihr Egoismus vorwirft, da sie mit ihrer Weigerung, auf die Kaufangebote einzugehen, die anderen Verkäufer um ihren raschen Profit bringe.

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Die politische Dimension des Films mag an §Le mani sulla città von Francesco Rosi erinnern, allerdings ist Mendonça Filho in erster Linie am Profil seiner Prot­agonistin interessiert. Die Eingangssequenz verleiht der Figur hierbei eine Konsistenz, die ihre Beharrlichkeit nachvollziehbar macht: Die Krebserkrankung ist überwunden (Clara trägt ihr lang gewachsenes Haar wie eine Krone), und die Kinder sind längst ausgezogen. Die Wohnung teilt sie nunmehr mit Ladjane, ihrer Hausangestellten, mit der sie ein auf Teilnahme und Dominanz gründendes Verhältnis pflegt. Auf den Regalen stauen sich die Schallplatten, die sie im Lauf ihrer Kritikerkarriere gesammelt hat, gut sichtbar ist weiter auch jene Kommode, die ihre Tante Lúcia in den einführenden Szenen mit ihren erotischen Erinnerungen assoziierte (in einer überraschenden Szene wird später auch Clara ihre sexuelle Unabhängigkeit unter Beweis stellen).

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Das nachgerade organische Verhältnis, das Clara zu ihrem Lebensraum unterhält, unterstreicht die Szene, in der Diego zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Während Clara schlafend in der Hängematte liegt, fängt die Kamera seine Silhouette hinter dem offenen Fenster ein. Der darauf folgende Schwenk über ihr Gesicht bis zur Tür illustriert die schleichende Gefahr, die der adrette Mann verkörpert: Aufwachen wird Clara erst mit der Klingel, als sich der Business-School-trainierte Makler bereits auf ihrem Stockwerk befindet. Später wird sich der enge Bezug von innen und aussen in der subtilen Opposition der Farben äussern: Das Blau, in dem die Fassade des Aquarius gehalten ist, prägt auch das Werbematerial der Firma Bonfim, die das Haus niederreissen will, während Clara in einem unvermuteten Impuls die Frontseite des Gebäudes plötzlich weiss wie ihre Innenräume streichen lässt.

Das helle Stoffband, das sich eines Nachts vom benachbarten Baugerüst löst, lässt sich wiederum mit dem Leichentuch assoziieren, das ein Totengräber aus einem offenen Grab räumt, als Clara in Angedenken an ihren verstorbenen Mann den Friedhof besucht. Es sind diese Schnittstellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die dieser wunderbar geführten und doch stets auch die dramatischen Leerstellen miteinbeziehenden Inszenierung ihre Stringenz verleihen. Claras Feldzug ist ein Plädoyer für das Recht auf Erinnerung. Kaum ein anderer Film hat in jüngerer Zeit eine so präzise Diagnose der brasilianischen Reibflächen geliefert, nicht zufällig wird Taiguaras Song am Ende auch den Abspann begleiten.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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