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Der Läufer

Hannes Baumgartner erzählt aus Täterperspektive von einem wahren und tragischen Fall: Ein Spitzensportler führt ein scheinbar erfolgreiches und geordnetes Leben, doch nachts überfällt er Frauen. Max Hubacher trägt diesen mutigen Erstlingsfilm.

Text: Tereza Fischer / 02. Okt. 2018

Sie heissen Travis Bickle, Patrick Bateman oder Aileen Wuornos, die mordenden Hauptfiguren, aus deren Perspektive Taxi Driver (1976), American Psycho (2000) und Monster (2003) erzählen. Die Filme lassen uns in die Abgründe der menschlichen Seele blicken. So schauen wir den Figuren nicht nur bei ihren grausigen Taten zu, sondern erfahren aus ihrer Warte über die abartigen Motivationen. Wir sind genauso fasziniert wie verstört und abgestossen. Der Täterfilm ist ein herausforderndes Genre, für das Publikum wie für die Filmschaffenden, denn es hält viele Fallen bereit, etwa wenn Spannung oder Faszination fehlen oder wenn der Film die Figur allzu sympathisch gestaltet und dadurch in Verdacht gerät, deren Taten zu legitimieren oder zu entschuldigen.

Die Psychogramme der Protagonisten in Taxi Driver und American Psycho werden nur innerhalb des Rahmens der Nach-Vietnamkriegsgesellschaft respektive des amoralischen Materialismus der Achtzigerjahre verständlich. Sie verweisen über sich selbst hinaus. Monster zeichnet zwar die wahre Geschichte einer Mehrfachmörderin nach, macht die Taten jedoch plausibel. Aileens mit Leichen gepflasterter Weg weist eine gewisse Logik und Tragik auf, denn sie strebt nach einem besseren Leben, verstrickt sich aber immer mehr in die Kriminalität.

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Nun erzählt mit Der Läufer auch ein Schweizer Film eine wahre Geschichte aus Tätersicht, und auch er tendiert mehr zur menschlichen Tragödie als zum gesellschaftlichen Sittenbild. Der Erstling von Hannes Baumgartner stellt den bekannten Thurgauer Waffenläufer Mischa Ebner ins Zentrum, der mehrere Frauen angriff und 2002 schliesslich eine Frau tötete. Im Film heisst er Jonas Widmer und führt vordergründig ein diszipliniertes Leben als Spitzensportler und freundlicher Koch, der tagsüber mit seiner Kollegin flirtet, nachts jedoch immer wieder Frauen brutal überfällt.

Ganz zu Beginn informiert uns eine Schrifttafel darüber, dass Jonas und sein Bruder als Kleinkinder den Eltern wegen schwerster Vernachlässigung weggenommen und in einer Pflegefamilie platziert wurden. Während Jonas mit vier Jahren noch nicht laufen konnte, sprach sein Bruder kein Wort. Das ist eine Erklärung, an die man sich während des Films immer wieder erinnern wird. Nicht nur, wenn Jonas nun zu Beginn ein geordnetes Leben zu haben scheint, sondern gerade, wenn der Film mit den Bildern der innigen, nonverbalen und sehr körperlichen Beziehung der beiden Brüder beginnt. In diesem Anfang, der in der Vergangenheit spielt, schöpft der Film seine gestalterischen Mittel aus, um uns an diesem Gefühl teilhaben zu lassen und uns vor Augen zu führen, welche Leere der spätere Tod des Bruders bei Jonas hinterlassen wird. Es scheint, als könne sie niemand und nichts füllen.

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Immer wieder lässt uns Baumgartner auch an den Träumen und Visionen von Jonas teilnehmen, um an diese Lücke zu erinnern und um mögliche psychologische Gründe für die Aggression gegen Frauen aufzuzeigen. Der Verlust des Bruders, sportliche Misserfolge sowie der Leistungsdruck und als drittes Element: die Zurückweisung durch Frauen. In einer Schlüsselszene wird die Auswirkung einer solchen Ablehnung direkt als Rache durchgespielt: Eine junge Frau, die vor Jonas auf der Strasse läuft, stürzt, er möchte ihr aufhelfen, sie rappelt sich selbst auf und beschimpft ihn. Er bleibt wie benommen stehen, holt dann jedoch Anlauf und entreisst ihr die Handtasche. Es ist nicht die erste, zu Hause hat er bereits eine ganze Kollektion. Die weiteren Opfer werden nur noch stellvertretend für andere (abweisende) Frauen bestraft und die Angriffe immer brutaler.

Trotz dieser groben Psychologisierung, zu der nach dem ersten Drittel des Films nichts Neues hinzukommt, bleibt Jonas' Verhalten mehrheitlich unerklärt. Der Dramaturgie dieser langsamen Eskalation setzt Baumgartner einen beobachtenden Gestus und ein offenes Ende entgegen. Die Zuschauer_innen sollen sich einfühlen. So produziert er keine Suspense, um zu unterhalten, erfindet aber auch keine Erklärungen, wo es in Wirklichkeit keine gibt. Das kann durchaus unbefriedigend sein.

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Um Empathie zu evozieren, verlässt sich Baumgartner ganz auf seinen Hauptdarsteller. Und Max Hubacher hat nicht nur hart trainiert, um als Läufer zu überzeugen, sondern gibt sein Bestes, die Trauer um den Bruder, die Einsamkeit und Verzweiflung des jungen Mannes durch dessen Verschlossenheit hindurchscheinen zu lassen. Lange verharrt die Kamera jeweils auf seinem Gesicht, als könne sie etwas entdecken, wo es nichts zu entdecken gibt. Hubachers Äusseres kann aber höchstens ein opakes Inneres vermitteln, in das wir etwas hineinprojizieren können. Mit filmischen Mitteln geht Baumgartner dagegen höchst sparsam um. Er hätte etwas von der inneren Dunkelheit seiner Figur auch audiovisuell darstellen können, in Bildern und Tönen, anstatt beinahe alles Hubacher aufzuladen.

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Obwohl der erste Übergriff nach nur einer Viertelstunde stattfindet, gewinnt die Figur genügend Sympathie, um die Entwicklung der Ereignisse als Tragödie erscheinen zu lassen. Es ist weniger das Gruselgefühl, das uns bei Monster oder American Psycho befällt, auch weist die Geschichte nur bedingt eine gesellschaftliche Dimension auf. Interessant ist hier vielmehr die Empathie mit einem Täter, die ins Leere läuft, die Spekulation, die keine abschliessende Antwort bekommt. Im besten Fall wird einen der Film noch lange über den Kinobesuch hinaus verfolgen.

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