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In den Gängen

In einem ostdeutschen Grossmarkt, in dem strenge Regeln gelten, schaffen sich die Angestellte kleine Oasen der Freiheit. Der Neue verliebt sich zwischen den hohen Regalen in seine Kollegin von der Süsswarenabteilung. Eine bittersüsse Romanze inmitten einer tristen Welt.

Text: Tereza Fischer / 25. Apr. 2018

Noch sind sie leer, die Gänge des Grossmarkts irgendwo im ostdeutschen Nirgendwo. Das künstliche fahle Licht erhellt die von überhohen Gestellen geformten Gänge spärlich, aber effektvoll. Doch dann fährt zum Donauwalzer eine Reinigungsmaschine blinkend und scheinbar führerlos umher. Als wäre es ein Tanz, gesellt sich ein Gabelstapler dazu, der durch seine Fahrten quer durch die Gänge das Bild selbst beinahe ins Schwanken geraten lässt.

So lässt uns Thomas Stuber mit verführerischer Leichtigkeit in eine andere Welt eintauchen. Ganz so unbeschwert wie wir fängt Christian an seinem ersten Tag in den Gängen im Grossmarkt nicht an. Als erstes wird er in einen blauen Kittel gesteckt und mit Namensschild, Stiften und Cutter ausgestattet. Das Kunstlicht lässt die Hautfarbe von Franz Rogowski, der diesen jungen Mann, schüchtern und wortkarg, aber auch entschlossen, folgsam und doch Grenzen überschreitend spielt, gelblich erscheinen. Das Leben hier scheint denn auch nicht das gesundeste zu sein, so ganz ohne Tageslicht, doch die Angestellten wissen sich ihre Oasen zu schaffen. Bruno etwa, der Christian in der Getränkeabteilung unter seine Fittiche nimmt, macht seine Pause, die «Fuffzehn», rauchend auf dem Klo oder spielt Schach. Ein anderer freut sich wie ein Kind auf sein Bierchen am Feierabend. Und mit Wärmelampe, Liegestuhl und einem Drink lässt sich auf der Laderampe gar Ibiza imitieren.

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Für Christian wird der Pausenraum zu einem kleinen Paradies. Da nämlich kann er Marion einen Kaffee aus dem Automaten offerieren und ihr nahe kommen. Viele Worte verliert er dabei nicht, aber die «Palmen vor Sonnenuntergang»-Tapete aus den Achtzigern bilden für seine Avancen die perfekte Kulisse. Marion arbeit im Gang mit den Süsswaren auf der anderen Seite des Getränkegestells. Und wenn er sie sieht, rauscht das Meer plötzlich. Neckend nennt sie ihn «Frischling» und will mehr über ihn wissen. Die zarten Gefühle, die sich zwischen den beiden entwickeln werden von den Kolleg_innen aufmerksam beobachtet, denn Marion ist verheiratet, wenn auch nicht glücklich.

Es ist eine andere Welt, in der das Zeitgefühl verloren geht. «Draussen ist alles anders», lässt uns Christian in der Voice-over wissen. Dort hatte er ein anderes Leben, eine Vergangenheit. Diese lässt sich noch an seinem Körper ablesen, in Form von Tattoos: Tribals und zwei riesige Kampfhunde auf dem Rücken. Jugendlicher Leichtsinn und falsche Freunde haben ihm zwei Jahre Knast eingebracht. Nun aber beginnt er das Leben neu, ganz vorsichtig, immer darauf bedacht, dass der blaue Kittel die Tattoos, und damit auch seine Vergangenheit, verdeckt und dass er die strengen Regeln nicht bricht. Dieses Neuanfangenwollen wiederholt sich denn auch immer wieder in einer kurzen Montage wie ein Mantra – für den wunderbaren Rhythmus des Schnitts war der Schweizer Kaya Inan zuständig: Ein paar Grossaufnahmen in rascher Abfolge, die zusammenraffen, wie Christian bei Schichtantritt seinen Kittel über die Tattoos zupft.

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Ein sogenannter Häuptling, der Big Brother, den wir nie zu Gesicht bekommen, herrscht über den Grossmarkt. Dessen Regeln gilt es strikte zu befolgen, sonst droht Rausschmiss. Diese Ordnung manifestiert sich auch in den oft planimetrischen, flach wirkenden Bildern, in denen die Menschen keine Perspektiven haben, weder räumlichen noch im übertragenen Sinn. Oder der Film verdeutlich die starre Ordnung in ebenso starren, achsensymmetrischen Bildern, in denen die Köpfe der Figuren ungewohnt auf halber Höhe sitzen: Die Angestellten eigentlich sind unbedeutend in diesem Grossmarktsystem. Als hätte sich der Kameramann Peter Matjasko beim Zyniker Ulrich Seidl bedient. Anders als bei Seidl aber lässt uns Stuber grosse Zuneigung zu den Figuren entwickeln. Zudem haben die Enge der Gänge, die Ordnung und die Regeln hier auch ihr Gutes. Sie geben Christian Halt und ein Zuhause, einen Freund und eine Frau, die er begehrt.

Der Liebeskummer bringt aber Ordnungen durcheinander. Wenn Christian kurzzeitig zurück in seiner alten Welt abstürzt, löst sich auch die Form des Films auf. Das ist zwar nachvollziehbar, doch es tut ihm nicht gut. Die Lakonie, mit der Stuber im Grossmarkt so unterhaltsam und herzerwärmend erzählt, gibt er in diesen Szenen zugunsten eines stereotypen Minidramas auf und verliert dabei formal an Prägnanz. Das ist schade, aber verzeihlich, weil der Film zum Glück wieder in die Gänge kommt.

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Am Schluss hat Christian das Gabelstapelfahren, bei der er sich lange Zeit so ungeschickt angestellt hat, gemeistert. Und zum Glück beherzigt er nicht, was der Ausbildner den angehenden Gabelstapelfahrern einschärfte: Das Mitführen von anderen Personen sei strengstens verboten, denn es könne unvorhergesehene Auswirkungen auf deren Leben haben. Marion fährt mit und am Ende hören sie beide das Meeresrauschen.

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