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Loveless / Neljubow

Ein Junge verschwindet. Die Suche nach ihm führt die Verbliebenen nicht zusammen, sondern offenbart nur die Zerrüttung von Familie und Staat.

Text: Christoph Egger / 07. Mai 2018

Auch mit seinem inzwischen fünften Langspielfilm bestätigt der 1964 in Nowosibirsk geborene Andrei Swjaginzew, dass er sein grosses Thema bereits mit dem Erstling gefunden hatte: die Familie. Seither lotet er diesen Komplex in immer neuen Beleuchtungen und Brechungen aus, wobei der Fokus immer auf den Kindern (bisher immer Buben) bleibt – selbst dann noch, wenn diese, wie nun in Neljubow (Loveless), bereits am Anfang des Films verschwinden. Von Die Rückkehr (Woswrasch­tschenje, 2003), der bezwingenden Geschichte eines Vaters, der nach jahrelanger, nie erklärter Abwesenheit sich nun intensiv seiner Söhne annimmt, bis die beiden ihn zuletzt auf tragische Weise wieder verloren haben werden, über Die Verbannung (Isgnanje, 2007), erneut beeindruckend gefilmt, allerdings verstrickt im allzu Verrätselten, zur formalen Gegenbewegung in Elena (2011), einer meisterlich kühlen Analyse der moralischen Verkommenheit des heutigen Russlands, bis zu Leviathan (2014), dem Panorama einer heillosen Dreifaltigkeit von Politik, Justiz und Kirche, die sich in brutalem Zynismus daranmacht, eine Familie zu zerstören.

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Loveless knüpft in Schauplatz und Habitus unübersehbar an Elena an. Erneut befinden wir uns in Moskau, mal in der Innenstadt, mal an der Peripherie, nun aber nicht mehr in einem heruntergekommenen Plattenbau, sondern in einer leidlich komfortablen neueren Überbauung. Wie denn der Film erstmals bei Swiaginzew eine heutige grossstädtische Arbeits- und Konsumwelt zeigt, die durchaus westlich anmutet.
Der zwölfjährige Aljoscha ist verschwunden, was der Vater gar nicht und die Mutter auch erst mit einer Verspätung von mehr als einem Tag bemerken. Der schliesslich hinzugezogene Polizist versichert sich erst, dass hier nicht einer jener Fälle vorliegt, «in denen Eltern ihr Kind umgebracht haben, um es dann als vermisst zu melden», verweist vor allem aber auf die beschränkten Ressourcen seiner Behörde, die ein Eingreifen erst ermöglichten, nachdem die Sache zum Kriminalfall erklärt worden sei.
Aljoscha, den wir nur zu Beginn auf dem Nachhauseweg von der Schule etwas ausführlicher sehen, wird auch unter Beizug einer privaten, parastaatlichen Organisation nicht gefunden. Stattdessen wird er zur leeren Mitte einer Handlung, die sich nur widerwillig um das Schicksal eines Kindes dreht, das seinerzeit nicht abgetrieben zu haben seine Mutter noch immer bedauert. So mutete eine Übersetzung des russischen Filmtitels Neljubow (Nichtliebe) mit «lieblos» fast schon wie eine Untertreibung an angesichts der Grobheit und des Widerwillens, die dem Buben zu Hause entgegenschlagen. Weinend sehen wir ihn in seinem Zimmer, während die in Scheidung begriffenen Eltern ihre Kämpfe ausfechten und nur auf den Verkauf der Wohnung warten, um zu ihren jeweiligen Geliebten zu ziehen.

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Eine geschlagene halbe Stunde dauert es, bis erstmals eine Person bei ihrem Namen genannt wird. Es ist Boris, Aljoschas Vater, und die, die den Namen sagt, ist nicht etwa Aljoschas Mutter Schenja, sondern die hochschwangere Mascha, mit der Boris eine Beziehung hat. Eine liebesbedürftige Schenja sehen wir, wenn sie in einer eleganter Wohnung Sex mit Anton hat, den wir später beim Skypen mit seiner erwachsenen Tochter sehen, die in einem fernen, sonnigen Land zu leben scheint. Doch noch hat die Suche nach Aljoscha erst angefangen, und sie wird den Film als sein bleiernes Verhängnis begleiten. Wider Erwarten ist der Bub nicht aufs Land zu seiner Grossmutter mütterlicherseits geflüchtet, diesem «Stalin im Rock», wie ihr Schwiegersohn sie betitelt und die nun ihrerseits einen wahren Beschimpfungsschwall auf die Tochter niedergehen lässt. Wenn Schenja von sich sagt, sie sei ein «Monster», so stimmt dies zwar in Bezug auf Aljoscha und Boris, doch die Erschütterung, als ihr in der Gerichtsmedizin der grauenvoll verstümmelte Körper eines (fremden) Jugendlichen zur Identifizierung vorgelegt wird, offenbart auch eine andere Seite ihres Wesens. Boris’ Reaktion in derselben Szene hingegen wirkt seltsam gekünstelt, und es ist nicht auszumachen, ob es sich dabei um Absicht der Regie oder das Unvermögen des Schauspielers handelt.

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Irgendwann sind wir in der jüngsten Gegenwart angekommen, in der das Kind von Boris und Mascha schon mehrere Jahre alt ist. Die Weltlage von den Nachrichten im Autoradio hat sich ins Fernsehen und zum Krieg in der Ostukraine verschoben, dessen Kommentierung ein interessantes Gegenstück zur Bericht­erstattung in den westlichen Medien abgibt. Schenja ihrerseits sehen wir auf der Terrasse ihrer luxuriösen Attikawohnung auf einem Laufband, wo sie zuletzt lang in die Kamera schauen wird. Und in der alten Wohnung haben Handwerker damit begonnen, Aljoschas Kinderzimmer völlig neu herzurichten. An seine Existenz erinnern nur noch längst vergilbte Flugblätter an Laternenpfählen mit den Jahreszahlen 2000–2012 sowie das rotweiss gemusterte Absperrband, das hoch oben an einem Baumast im Wind flattert – und von dem einzig die Zuschauer_innen wissen, dass es einst von Aljoscha hier hinaufgeworfen wurde, damals, auf dem Heimweg von der Schule.

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Auch der Film ist jetzt zur Musik des Anfangs zurückgekehrt, den zornigen, drängenden Klavierakkorden, für die Jewgeni und Sascha Halperin den Europäischen Filmpreis 2017 für die beste Musik (ebenso wie Michail Kritschman für seine Kameraarbeit) erhalten haben und deren laute Insistenz ohnmächtig lauter Wut gewichen ist.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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