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Apfel und Vulkan

Fabienne wird sterben, Nathalie lebt weiter. Konfrontiert mit dem eigenen und dem fremden Tod versucht man klarer zu sehen, was das Leben ist.

Text: Johannes Binotto / 05. Juni 2018

Das alte Sofa, dessen Bezug längst verschlissen ist und immer mal wieder notdürftig geflickt wurde, soll endlich neu bezogen werden und wird dazu in der Werkstatt in seine Einzelteile zerlegt. Allein darüber könnte man lange nachdenken: was es bedeutet, dass man etwas zuerst ganz auseinandernehmen muss, um es zu neuem Leben zu erwecken. Am scheinbar banalen Möbelstück zeigt sich so eine merkwürdige Verschränkung von Zerstörung und Kontinuität. Man reisst die Sachen auf, damit sie wieder heil werden. Und aus den Rissen heraus purzelt die Vergangenheit: Als die Seitenwand des Sofas abgenommen wird, tauchen lauter vergessene Sachen auf, die von den Kindern mal ins Futter gestossen worden sind: ein Spielzeugkrebs, ein Stift, ein Holzlöffel, darunter aber auch ein Faltheftchen mit Fussballspielen aus den Achtzigerjahren vom toten Bruder, dem das Sofa früher gehört hatte. Plötzlich fällt einem ein Ding in die Hand, das mal banal war und jetzt, beim Wiederfinden, voller Bedeutung.

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Erinnerungsstücke nennt man solche Funde und um sie geht es in Nathalie Oestreichers Film, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinn: um Gegenstände, die Erinnerungen auslösen, aber auch darum, dass die Erinnerung selber immer nur stückweise existiert und niemals ganz ist. Darüber, wie Erinnerungen in Objekten gespeichert werden, hat die Freundin der Regisseurin, die Künstlerin Fabienne Roth Duss einmal ihre Abschlussarbeit gemacht. Nun, bereits mit 39 todkrank, muss sie sich selbst überlegen, welche Dinge sie den beiden kleinen Töchtern zurücklassen möchte. Dinge, die zwar eine Erinnerung an die Mutter ermöglichen, aber die einen doch nicht unter dem Schmerz der Erinnerung erdrücken, sondern es vielmehr ermöglichen, dass man sie auch liegen lassen kann, dass man vergessen kann. Die Filmemacherin ihrerseits versucht die Bruchstücke ihrer eigenen Erinnerung an den schwierigen Vater und an den idealisierten Bruder zusammenzufügen und die Lücken zu begreifen, die das brutale Verschwinden zuerst des einen und später des anderen gerissen haben.

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Apfel und Vulkan spielt damit gleichsam zwischen den Toden: zwischen dem Tod von Vater und Bruder in der Vergangenheit und dem bevorstehenden Tod von Fabienne in der unmittelbaren Zukunft. Der Raum zwischen den Toden aber ist der Raum des Lebens, so wie auch die Existenz von jedem einzelnen Menschen sich aufspannt zwischen dem Zeitpunkt, da man noch nicht existierte und demjenigen, an dem man dereinst wieder verschwinden wird. «Allez!» und nochmal: «Allez!», sagt Fabienne, «on vit à font». Mit voller Energie leben solle man, findet sie und lacht und weiss dabei, wie wenig Zeit sie selbst dazu noch hat.
Damit ist die Stimmung des Films trotz allem nicht verzweifelt, sondern nachdenklich heiter und offen für das, was auch ungeplant kommt. Wie etwa in jener Szene, wenn Nathalie und ihre Schwester über den Tod des Vaters sprechen und genau in dem Moment läuft, selenruhig und ohne sich um die beiden zu kümmern, im Hintergund die Hauskatze ins Bild. Oder man schaut zu, wie ein Haus abgerissen wird und wie die Rotorblätter eines am Deckenbalken angeschraubten Ventilators plötzlich wieder zu drehen anfangen, während die Klaue des Baggers ihn in der Mulde versenkt. Ist halt doch alles noch am Leben. Genau so, wie die vertrockneten Apfelkerne, von denen der Vater gesagt hatte, sie seien tödlich, wenn man zu viele von ihnen esse, die man aber nur in die Erde zu stecken braucht, damit sie wieder zu keimen anfangen.

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«Was machst du da?», fragt eines der Kinder der Filmemacherin das andere, während sie mit dem kleinen Haufen zerbrochener Ziegel auf dem Dachboden des Hauses spielen: «Im Dräck umenoisle». Eigentlich würde man ja annehmen, dass es einem rasch voyeuristisch und unangenehm zumute würde, wie in diesem Film das doch sehr private Wühlen im Schutt der Vergangenheit gezeigt wird. Und es ist schon möglich, dass manchen Zuschauer_innen diese Intimität zu weit gehen könnte. Aber so betont subjektiv die Regisseurin zwar ihre eigene Geschichte durcharbeitet, es wird schnell klar, dass es hier um mehr geht als das partikulare Einzelschicksal. Paradoxerweise eröffnet gerade die sehr persönliche, essayistische Form des Films, dass man ihn von den konkreten Personen ablösen und sich selbst zu eigen machen kann. Wenn sich die Gattung des essaystischen Films dadurch auszeichnet, dass sie keinen dokumentarischen Überblick behauptet, sondern stattdessen das Tastende und Bruchstückhafte betonen will, dann sind diese Lücken genau auch der Ort, wo das Publikum Raum hat, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
Auch die Regisseurin, so erklärt sie am Anfang, hatte ursprünglich einen anderen Film geplant gehabt, bis die Umstände sie zwangen, sich einer ganz anderen Geschichte entlangzutasten und so muss auch das Publikum seinen eigenen Weg suchen.

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Nathalie Oestreicher und ihre Kameraleute Séverine Barde und Milivoj Ivkovic haben für dieses Tastende eine ebenso simple wie produktive visuelle Metapher gefunden, die noch dazu die Regisseurin ganz persönlich betrifft: die Unschärfe. Tatsächlich fängt der Film damit an, dass die Filmemacherin beim Optiker eine neue Brille bekommen soll. Die Kurzsichtigkeit aber, so hören wir sie auf der Tonspur überlegen, hat auch etwas für sich, indem sie nämlich erlaubt, die Details in der Nähe genau zu sehen und die grösseren Zusammenhänge uneindeutig werden lässt. In den unscharfen Einstellungen, die immer wieder den Film skandieren, werden wir herausgefordert, auch unsere eigene Einstellung neu zu justieren. Während die klare Sicht unentrinnbare Eindeutigkeit vermittelt, eröffnen die unscharfen Bilder neue Möglichkeiten, sie zu lesen. Und wo man nur Details statt grossen Zusammenhängen sieht, ist die Art und Weise, wie diese Details zu verketten sind, noch nicht vorgeschrieben.

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Das überragende Potenzial des Kameraapparats, so wird klar, liegt gar nicht darin, die Bilder der Erinnerung schärfer zu stellen, sondern sie mehrdeutig zu machen. Das ist so, als würde man eine fremde Brille anziehen, welche die Sicht verschwimmen lässt und dadurch plötzlich sehen, was vorher in den so klaren Bildern nicht erkennbar war: dass die Vergangenheit, die angeblich unveränderbar festgeschrieben war, und die Zukunft, die so unabwendbar schien, eigentlich viel unklarer und damit viel offener sind, als wir gemeint haben. Am Ende des Films werden wir zusammen mit der Filmemacherin noch einmal auf ein verschwommenes Bild schauen, eines, das nicht die Regisseurin, sondern ihre Freundin gemacht hat, unscharf und verpixelt – ein Erinnerungsstück, bedeutsam gerade in seiner Offenheit.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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