Filmbulletin Print Logo
Capharnaum filmstill1

Capharnaum – Stadt der Hoffnung

Das Leben des zwölfjährigen Zain gleicht der Hölle. Die libanesische Regisseurin Nadine Labaki hält mit ihrem Film ein zwar nicht subtiles, aber aufwühlendes Plädoyer für den Schutz der Schwächsten der Gesellschaft.

Text: Tereza Fischer / 10. Jan. 2019

Ein blasser, verletzlich wirkender Junge wird zu Beginn des Films von einem Arzt untersucht und auf zwölf Jahre geschätzt. Zain selbst weiss nicht, wie alt er ist. Eine Geburtsurkunde existiert nicht. Er wirkt viel jünger, jedenfalls viel zu jung fürs Gefängnis. Und doch hat er einen «Hurensohn» – wie er immer noch wütend zu Protokoll gibt – niedergestochen und muss dafür eine fünfjährige Strafe absitzen.

Nadine Labaki hat in ihren früheren Filmen Caramel (2007) und Et maintenant on va où? (2011)zwar problematische Themen wie das Zusammen­leben von Christ_innen und Muslim_innen in ihrer Heimat, dem Libanon, ins Zentrum gestellt, jedoch jeweils einen humorvollen Ton gewählt. Für ihren neuen Film, der in Cannes den Jurypreis gewonnen hat, wählt sie den bedrückenden Ton des Dramas und lässt nur in wenigen Momenten Wärme und Humor aufscheinen. In Capharnaum beginnt die Geschichte mit einer zwar wenig plausiblen, aber überraschenden und radikalen Idee: Zain verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, eine Welt, die für ihn und seine Geschwister die Hölle auf Erden ist. Was wie ein Witz tönt, führt in authentisch wirkenden Rückblenden in Zains Welt in den Slums von Libanon und zu den Ereignissen, die zu seiner Inhaftierung geführt haben.

Capharnaum filmstill2

Zain trägt in seinem zarten Alter eine schwere Last. Nicht nur muss der schmächtige Junge wortwörtlich schwere Taschen und Gasflaschen schleppen, sondern auch Verantwortung übernehmen für die jüngeren Geschwister. Auf die Frage, wie viele er denn habe, antwortet Zain einfach «viele» und meint «zu viele». Wichtig sind für ihn nicht die Eltern, die ihn wüst beschimpfen, schlagen und ihn hart arbeiten lassen, sondern vor allem seine elfjährige Schwester Sahar. Um die Gefahren wissend, die in diesem riesigen Labyrinth des Elends auf sie warten, versucht er sie zu beschützen, erklärt ihr etwa, wie sie verstecken kann, dass sie ihre erste Periode bekommen hat. Doch die Idee der Eltern, wie man ein hungriges Maul scheinbar zum Wohl des Kindes loswird, geht in eine andere Richtung: Sie wird mit einem Ladenbesitzer, dem Sohn des Vermieters, verheiratet.

Die als Rettung vor der Heirat geplante Flucht mit dem Bus muss Zain alleine antreten. In einem Vergnügungspark, in dem er Arbeit und Essen sucht, begegnet er Rahil. Die Äthiopierin lebt allein mit ihrem Baby Yonas in einer Baracke. Sie nimmt den hungrigen und einsamen Jungen bei sich auf, schenkt ihm etwas Wärme und Nähe, lässt ihn aber auch nicht uneigen­nützig auf ihr Kind aufpassen, während sie arbeiten geht.

Capharnaum filmstill3

Rahil und Zain haben etwas gemeinsam, sie sind Sans-Papiers: Während ihr die Aufenthaltsbewilligung fehlt, hat Zain gar keine Identitätspapiere und damit keinen Zugang zu Schulbildung oder medizinischer Versorgung. Als Rahil bei einer Kontrolle verhaftet wird, versucht Zain verzweifelt, sich um das Baby zu kümmern. Dieser Kampf und seine wachsende Überforderung nehmen viel Raum in der Mitte des Films ein. Vielleicht einen Hauch zu viel. Einigen Zuschauer_innen wird das sich kumulierende Unglück möglicherweise zu viel sein. Und doch fühlt sich das alles nicht an wie ein billiger Manipulationsversuch unserer Gefühle. Das liegt zur Hauptsache an den umwerfenden kindlichen Darsteller_innen. Labaki hat die Laien dort gefunden, wo das Drama spielt, sodass eine natürliche Nähe zwischen Fiktion und Realität entsteht. Der Hauptdarsteller Zain Al Rafeea ist in armen Verhältnissen aufgewachsen und hat tatsächlich seit seinem zehnten Lebensjahr arbeiten müssen. Damit lässt sich aber weder sein überzeugendes Spiel noch die Glaubwürdigkeit der Figuren erklären. Vielmehr liegt es wohl an der geduldigen und einfühlsamen Schauspielerführung von Nadine Labaki. Sechs Monate hat sich die Regisseurin Zeit gelassen für ihre jungen Darsteller_innen. Das hat sich besonders im Fall von Baby Yonas gelohnt, das von einem unwiderstehlich süssen einjährigen Mädchen gespielt wird.

Capharnaum filmstill4

Selbstverständlich ist diese Leistung nicht ohne einen präzisen Schnitt denkbar: Konstantin Bock und Laure Gardette setzten in der Montage auf ein relativ hohes Tempo, ohne jedoch ins Gehetzte oder Unübersichtliche abzurutschen. Da versetzt uns eher die Kamera von Christopher Aoun, die sich meist auf der Augenhöhe von Zain befindet, in die unangenehme Position, in der die Last der Verantwortung und der Arbeit schwerer wirkt. Die von der Kamera vermittelte Fokussierung auf den Protagonisten macht die Vereinfachung der Zusammenhänge plausibel. Geschönt wird visuell nichts. Der Schwerpunkt liegt auf der emotionalen Nachvollziehbarkeit und der Vermittlung einer beklemmenden, feindlichen Umgebung. Dies unterstützt auch der invasive Ton: Es gibt keinen Ort in dieser Welt, an dem man vom Lärm der chaotischen, überfüllten Strassen geschützt wäre.

Nadine Labaki, die selbst auch Schauspielerin ist, übernimmt in Capharnaum die kleine Rolle von Zains Anwältin. Und sie ist auch als Regisseurin eine Anwältin, die mit ihrem Film ein flammendes Plädoyer für den Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft hält. So zeichnet sie das Schicksal ihrer Protagonist_innen überzeugend und emotional als ein Leben in der Hölle, aus der es ohne Identitätspapiere keinen Ausweg gibt. In der galiläischen Stadt Kapernaum hat Jesus gelebt und Menschen geheilt, doch weil diese ihn und sein Werk zurückgewiesen hat, sei sie «bis in den Hades zurückgestossen» worden (Matthäus, 11, 23). Eine Stadt der Hoffnung, wie es der deutsche Verleihtitel suggeriert, ist dieser Ort also beileibe nicht, auch wenn uns Labaki am Ende ein Happy End gönnt.

Capharnaum filmstill7

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

04. Dez. 2023

Aus dem Takt: Maestro

Bradley Cooper hat die Biografie des bekanntesten US-Komponisten des Jahrhunderts Leonard «Lenny» Bernstein zum eigenwilligen Liebesfilm gemacht – ein überraschender Autorenfilm.

Kino

01. Jan. 2006

Vitus

Der «Traum vom Fliegen» und die Buben: Sie haben Murer durch sein ganzes bisheriges Schaffen begleitet. Der «Traum vom Fliegen», synonym gesetzt mit der «Lust zum Ausbrechen».