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Shut Up and Play the Piano

Ein Tausendsassa, gefangen zwischen den Rollen, und ein Filmemacher, der ganz ohne Aufnahmen im privaten Bereich auskommen musste: Trotz schwerem Stand gibt Philipp Jenicke mit seinem Porträt des Musikers Chilly Gonzales faszinierende Einblicke in eine kaum fassbare Kunstfigur.

Text: Jonas Frehner / 23. Jan. 2019

27 Stunden, 3 Minuten, 44 Sekunden: So lange haute Chilly Gonzales 2009 im Pariser Theater «Cine 13» ununterbrochen in die Tasten. «I am half Houdini, half Energizer bunny and this will prove it», kündete er den Auftritt gewohnt grossspurig an. Ein Weltrekordversuch, der sinnbildlich fürs unkonventionelle Werk und den Werdegang des Ausnahmekünstlers steht. Als er dann den alten Rekord fürs längste Solokonzert pulverisierte, waren die Augenringe noch dunkler als üblich und kontrastierten mit den Konfetti, die über den Maestro am Klavier regneten. Es ist nur eine von hunderten Anekdoten, die es nicht ins Porträt von Regisseur Philipp Jenicke geschafft haben. Zum Glück – denn schon so schrammt der deutsche Filmemacher mit seinem Versuch, den wandelbaren Tausendsassa einzufangen, nur knapp an der inhaltlichen Überfrachtung vorbei.

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Und das, obwohl der als Jason Charles Beck in Montreal geborene Musiker ausdrücklich keine privaten Aufnahmen zuliess. Jenicke war also aufs Archiv angewiesen, aus dem er mit feinem Gespür ein Panoptikum aus Erinnerungsfetzen zusammenstellte, um hinter die Maske der Kunstfigur Chilly Gonzales zu blicken. Eine Maske, die der studierte Jazzpianist nach eigenen Aussagen aus Minderwertigkeitskomplexen und einem Schuss Arroganz aufgebaut hat. Eine Maske, die der 46-jährige seit seinem Umzug nach Berlin Ende der Neunzigerjahre konsequent aufsetzt, sobald er in die Öffentlichkeit tritt. Beck kennt kein «auf der Bühne» oder «neben der Bühne»: Für Fans, Kritiker und Journalisten existiert er nur als Kunstfigur, die sich kaum schubladisieren lässt. Auch im Filmporträt wandelt sich Gonzales fliessend vom feinfühligen Pianisten zum grosskotzigen Rapper zum scheinbar wahnsinnigen Performancekünstler zum erfolgreichen Produzenten und Grammygewinner. Eines ist Gonzo – wie ihn Wegbegleiter und Freunde nennen – dabei immer: ein verdammt starker Entertainer.

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Doch wie fängt man einen filmisch ein, der behände in irrwitzige Variationen seiner Figur schlüpft und von dem man nie mit Sicherheit weiss, ob er nun «er selbst» ist? Einen, der sich offensichtlich über die Medien echauffiert und diese auch mal mit einer Meute von Doppelgängern an der Nase rumführt. Der so mit seinen grellbunten Federkleidern verwachsen ist, dass er kaum mehr Blicke unter die Hülle der Selbstinszenierung zulässt. Philipp Jedicke, der Gonzos Karriere seit seiner Zeit bei den rappenden Puppen «Puppetmastaz» verfolgt und ihn inzwischen als Freund begleitet, versuchte das Unmögliche: den Schutzpanzer aufbrechen. Kein leichtes Unterfangen, das dem Regisseur trotzt massenhaft Archivbildern und Konzertmitschnitten, auf die er zurückgreifen konnte, nur phasenweise gelang. Meist chronologisch folgt der Film dem Leben Gonzales' von dessen Kindheit und musikalischen Anfängen in Montreal über Art-Punk-Experimente im Berliner Underground bis zum späteren Erfolg als ironisch-intellektueller Rapper und klassischer Pianist. Haften bleiben die Brüche: Etwa wenn der immerlaute Provokateur es erstmals leise versucht, an sich selber zweifelt – und genau dann mit dem Album «Solo Piano» seine grössten Erfolge feiert.

Begleitet werden die oft skurrilen Rückblicke zwischen Performance-Wahnsinn, elektronischen Eskapaden und poetischer Kammermusik von Interviewsequenzen mit den musikalischen Wegbegleiterinnen Peaches und Feist. Sie bildeten in den Neunzigern mit Mocky und Gonzo eine Punkkapelle mit dem unprätentiösen Namen «The Shit» und zogen gemeinsam vom beengenden Montreal ins experimentierfreudige Berlin. Und selbstverständlich kommt auch der Virtuose selbst zu Wort, etwa als ihm Jedicke mit Sibylle Berg als Interviewerin eine schlagfertige und düstere Chronistin unserer Zeit gegenüberstellt. Doch die für bitterböse Spitzen bekannte Autorin gibt sich handzahm und kann der Rampensau kaum Persönliches entlocken. Zu stark ist der Schutzwall, zu ernst scheint er eigene Songzeilen wie «Authenticity is often shitty» zu nehmen.

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Nur ganz selten blitzt der weiche Kern von Jason Beck unter Chilly Gonzales' hartem Panzer hervor. Etwa dann, wenn er gesteht, keine Partituren lesen zu können und beim Üben am selben Punkt einsteigen zu müssen wie ein Siebenjähriger. Oder als er über die Rivalität zu seinem als Filmkomponist höchst erfolgreichen Bruder Christophe Beck spricht. Ein prägendes Thema, das mit Schnipseln aus dem Spielfilm Ivory Tower (2010) gestärkt wird, an dem Gonzales mitgeschrieben, als Schauspieler mitgewirkt und zu dem er den Soundtrack geliefert hat.

Auch Jedickes kurzweilige Doku lebt über grosse Strecken von der Musik und überbordenden Energie ihrer Hauptfigur. Knackige 82 Minuten dauert dieses Porträt in Musikvideoästhetik. Es sind funkensprühende Minuten, die den Derwisch in Filzpantoffeln zu fassen versuchen. Am besten funktioniert das immer dann, wenn der Kontrast am grössten ist: beim Auftritt mit dem gesitteten Radio-Symphonieorchester Wien etwa, als der Gonzo sich die Finger blutig spielt, der Schweiss rinnt und er sich nach getanem Werk mitsamt Morgenmantel im offenen Flügel fläzt.

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