Ask Dr. Ruth

Ryan White
Nicht als Überlebende, sondern als Waisenkind des Holocausts versteht sich die Fernseh-Sexualtherapeutin Dr. Ruth Westheimer. Eine Verbeugung vor einer aussergewöhnlichen Frau.
«Hello, you’re on the air.» Dieser Satz, gesprochen in der unvergleichlich krächzenden Stimme von Dr. Ruth Westheimer mit dem auffälligen deutschen Reibe-R, weckt bei den nicht mehr ganz Jungen unter uns nostalgische Erinnerungen an die Sendungen der berühmtesten Sextherapeutin der USA. Seit 1984 hat sie mit ihren Radio- und später vor allem Fernsehsendungen das Verhältnis von Generationen von Amerikaner_innen (und Europäer_innnen) zur Sexualität geprägt. Die stets als freundlich-harmlose Oma agierende Wissenschaftlerin hat das in der Öffentlichkeit «Unsagbare» lächelnd ausgesprochen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie hat Tabus gebrochen, über die die Jüngeren heute müde lachen. Dabei erklärte sie das Wörtchen «normal» in ihren Sendungen selbst zu einem Tabu, denn normal gebe es nicht, wir seien alle so in Ordnung, wie wir sind, mit allen sexuellen Vorlieben und Schwierigkeiten. Und: Aufklärung ist das wichtigste Mittel im Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten und für Gleichberechtigung, für Diversität oder für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Der US-Dokumentarfilmer Ryan White nimmt den neunzigsten Geburtstag der nimmermüden Dr. Ruth zum Anlass, auf ihr Wirken und ihr bewegtes Leben zurückzuschauen. Die Titelsequenz lässt die heiteren Momente ihrer Fernsehgeschichte Revue passieren, um Dr. Ruth danach im Hier und Jetzt durch den Alltag zu begleiten. Wie ein rosa Duracell-Häschen scheint die bloss 140 Zentimeter grosse Fernsehlegende über unendlich viel Energie zu verfügen, wenn sie von Termin zu Termin jettet oder ihre ellenlange Bibliografie um ein weiteres Buch verlängert. Mindestens so beeindruckend wie ihre ungebremste Schaffenskraft ist die Lebensgeschichte der als Karola Siegel geborenen deutschen Jüdin.

Dr. Westheimers Erzählungen aus dem Off lässt White visuell als gezeichnete Animationen wiederauferstehen: Während der Naziherrschaft wird sie im Alter von zehn Jahren von den Eltern mit dem Kindertransport in die Schweiz in ein Waisenhaus geschickt. Die Briefe der Eltern sind ihr so lange ein Trost, bis sie plötzlich mitten im Krieg nicht mehr kommen. Es ist das letzte Mal, dass sie von ihnen etwas hört. Von da an ist Ruth allein. Nach dem Krieg werden die Waisen in ein Kibbuz in Israel geschickt. Dort wird sie erwachsen und verliert durch eine Bombe beinahe beide Beine. Sie gibt nie auf und hält sich an die guten Dinge im Leben, vor allem an eins: an Bildung.
Genauso wie in ihren Sendungen wählt Dr. Ruth auch in der unsentimentalen Erzählung die Worte sehr präzise. Dabei fallen schon früh einzelne Begriffe wie «allein» auf und bleiben uns in Erinnerung. Wenn wir viel später im Film hören, dass sie nicht gern allein ist, lädt sich dieses Wörtchen mit dem ganzen Gewicht ihres Schicksals auf. So schärfen der Regisseur mittels Dramaturgie und Dr. Ruth mit ihrer bedachten Wortwahl unser Sensorium, ohne zu psychologisieren. Lieber bezeichnet sich Dr. Ruth etwa als «orphan of the Holocaust» denn als «survivor». Von ihrer Enkelin will sie nicht als Feministin betitelt werden, auch wenn sie immer für die Gleichberechtigung und Selbstermächtigung von Frauen gekämpft hat. Nicht nur hat sie sich für die Fortsetzung ihres Studiums an der Sorbonne in Paris von ihrem ersten Ehemann getrennt, sie war nach der Scheidung von Ehemann Nummer zwei alleinerziehende Mutter, was damals keineswegs eine Selbstverständlichkeit war.

Es gibt unbeholfene Dokumentarfilme, die ihre Hauptpersonen in ferne Länder reisen lassen, wo jedoch die Umgebung bloss exotische Kulisse bleibt. Wenn White seine betagte Protagonistin in die Schweiz oder nach Jerusalem begleitet, dann geht es ihm nicht nur (ein bisschen auch) um schöne Bilder. In der Datenbank der Holocaustopfer des Yad Vashem Museums findet Dr. Ruth die Namen ihrer Eltern: Der Vater wird als «ermordet», die Mutter als «verschollen» geführt. Es sind Worte, die bei ihr sichtlich viel auslösen. Doch «eine deutsche Jüdin weint nicht in der Öffentlichkeit», sie spricht auch nicht über Leid, Trauma und Gefühle. Sie lächelt.
Was man als emotionale Szene hätte ausschlachten können, geht beinahe unbemerkt als Augenblick des Innenhaltens vorbei und ist doch einer der stärksten Momente in dieser liebevollen Hommage an eine aussergewöhnliche Frau.

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