Portrait de la jeune fille en feu

Céline Sciamma
Doppelt codiert sind die Blicke, die eine Malerin auf ihr Modell wirft. Im Folgenden entspinnt sich eine elegant inszenierte Liebesgeschichte, die sich zu einer Utopie selbstbestimmter Weiblichkeit erweitert.
Ein Ruderboot voller Männer bringt die junge Malerin Marianne Mitte des 18. Jahrhunderts auf eine kleine Insel in der Bretagne. Als der Koffer mit ihren Leinwänden über Bord geht, springt sie kurzentschlossen hinterher. Dass eine wohlerzogene Frau so etwas nicht tut, hält sie nicht zurück. Noch im Boot wendet sie sich danach, durchnässt und frierend, von der Gesellschaft ab, die diese Regeln diktiert, kehrt den Männern den Rücken zu.
Als Marianne schliesslich auf der Insel ankommt, tragen die Männer noch rasch das Gepäck zum Anwesen, auf dem die Malerin erwartet wird, dann sind sie weg. Erst kurz vor Schluss kehren sie wieder. Eines Morgens sitzt einer beim Dienstmädchen am Küchentisch und signalisiert damit das jähe Ende eines weiblichen Refugiums, in dem die Frauen des Films nach ihren eignen Bedürfnissen leben konnten.

Nach Mariannes Ankunft hält die Hausherrin, eine verwitwete italienische Gräfin, die Konventionen zunächst noch aufrecht. Sie beauftragt die Malerin, ein Porträt ihrer Tochter Héloïse anzufertigen, die einem ihr unbekannten Adligen aus Mailand versprochen ist. Das Bildnis soll den Bräutigam auf seine Braut vorbereiten. Héloïses Schwester, die ursprünglich für die Ehe vorgesehen war, starb auf mysteriöse Weise – vermutlich stürzte sie sich von den Klippen. Statt ihrer wurde nun Héloïse aus dem Konvent, in dem sie untergebracht war, zurückgeholt. Doch auch die Ersatzbraut stellt sich quer. Ein Maler musste bereits unverrichteter Dinge abreisen, weil sie sich beharrlich weigerte, ihm Modell zu sitzen. Deshalb schlägt die Gräfin der Malerin eine List vor: Marianne soll Héloïse als Gesellschaftsdame bei ihren Spaziergängen begleiten und sie dann aus dem Gedächtnis porträtieren. So entfaltet sich ein raffiniertes Versteckspiel. Gleich zu Beginn stehen die beiden von Noémie Merlant und Adèle Haenel famos verkörperten Frauen nebeneinander an den Klippen. Die Kamera ist dabei so positioniert, dass Mariannes Gesicht das von Héloïse verdeckt, wenn beide in die Brandung schauen. Aber immer dann, wenn Marianne den Kopf in Richtung Héloïse dreht, gerät auch diese ins Bild. Nach einer Weile bemerkt Héloïse stets, dass Marianne sie betrachtet, blickt zurück, und schon wendet sich Marianne wieder ab, sieht zur See, und Héloïse verschwindet hinter ihrem Profil.
Diese faszinierend komponierte und doch authentisch wirkende Szene bildet den Auftakt zu einer fesselnden Choreografie der Blicke. Die Neugierde, mit der die Malerin ihr Modell heimlich beobachtet, lässt sich unschwer als Allegorie auf ein unterdrücktes, weil tabuisiertes lesbisches Begehren deuten. Zugleich entfaltet sich ein äusserlich keusches, aber erotisch flirrendes Wechselspiel von Verbergen und Enthüllen, Hin- und Wegschauen. Auch wenn Héloïse die Blicke Mariannes bald erwidert und die beiden Frauen sich anfreunden, geht die Initiative von Marianne aus. Sie ist diejenige, mit der sich das Publikum identifizieren soll. Die Blickrichtung führt vom Subjekt zum Objekt der Begierde. Eine Perspektive, die in der Filmkritik derzeit gerne als «männlich» abqualifiziert wird. Die Art und Weise, in der Céline Sciamma diese Blicke inszeniert, wäre dann freilich eine «weibliche», weil sie mit ihrer Blickregie fast immer oberhalb der Schultern bleibt. Lediglich wenn Héloïse ihre Hände so aufeinanderlegt, dass die Finger der einen Hand das Gelenk der anderen umschliessen, weicht Sciamma davon ab. Es ist aber nicht Héloïses Körper, für den sich Marianne in solchen Momenten interessiert, es sind ihre Bewegungen, ist ihr Ausdruck, ihre eigentümliche Art.

Mariannes Blick ist doppelt codiert: Durch die Augen der Malerin schaut auch eine Liebende. Zum Wendepunkt kommt es, als Marianne das Porträt für vollendet hält und Héloïse die Wahrheit gesteht. Héloïse, die nun glaubt, Mariannes zweideutige Blicke miss-
verstanden zu haben, äussert sich verächtlich über das lieblose, konventionell gestaltete Gemälde. In einem verzweifelten, leidenschaftlichen Ausbruch zerstört die sonst so disziplinierte Marianne daraufhin das Bildnis. Als die Gräfin sie anschliessend entlassen will, erklärt sich Héloïse überraschend bereit, sich jetzt freiwillig von Marianne porträtieren zu lassen.
Die heimliche Liebe bricht sich offen Bahn, als die Gräfin für einige Tage die Insel verlässt. Damit erhält Sciammas Film eine neue Ausrichtung. Die «männliche» Perspektive entpuppt sich als eine subjektive, Mariannes, von der sich Sciamma fortan bewusst löst, wenn sie die beiden Frauen als gleichberechtigtes Liebespaar zeigt. Am deutlichsten wird das nicht etwa bei den jetzt nicht mehr gar so keuschen, aber stets respektvoll fotografierten Sexszenen, sondern beim Porträtieren.
Marianne meint, hinter ihrer Staffelei aus einer überlegenen Position heraus zu agieren. Unerbittlich und zärtlich zählt sie Héloïses Eigenheiten auf: wie sie sich mit der Hand über den Mund fährt, wenn sie aufgebracht ist, auf die Lippen beisst, wenn ihr etwas peinlich ist, oder aufhört zu blinzeln, wenn sie sich ärgert. «Ich würde es hassen, in deiner Position zu sein», bringt Marianne die vermeintlich hierarchische Rollenverteilung auf den Punkt. Héloïse aber ist nicht bereit, das hinzunehmen. Energisch bittet sie die Malerin zu sich, sie solle einmal ihre Position einnehmen. «Wenn du mich ansiehst», fragt sie, «wen sehe ich?» Ohne eine Antwort abzuwarten, beschreibt sie nun ihrerseits Marianne, wie sie sich mit der Hand über die Stirn streicht, wenn sie nicht weiss, was sie sagen soll, wie sie die Augenbrauen hochzieht, wenn sie die Kontrolle verliert, oder durch den Mund atmet, wenn sie aufgewühlt ist. Das Objekt der Begierde ist zugleich Subjekt derselben. Héloïse lässt sich zwar äusserlich auf die Rollenverteilung ein, indem sie für Marianne Modell sitzt, weist diese aber innerlich zurück. Mit dieser Haltung steht sie pars pro toto für emanzipiert denkende und fühlende Frauen, die im vorrevolutionären 18. Jahrhundert den radikalen Bruch mit der patriarchalen Gesellschaft noch mieden.

Sciamma, die nach ihren drei Coming-of-Age-Dramen Water Lilies, Tomboy und Bande de filles den Fragen von Gender und weiblicher Identität nun zum ersten Mal in einem Frauenfilm nachspürt, will es dabei nicht belassen. Zumindest als Utopie inszeniert sie auf der imaginären Fraueninsel einen gesellschaftlichen Gegenentwurf. Was sich bislang unterschwellig erahnen liess, tritt derart offen zutage, dass es mitunter beinah plakativ ausgestellt wirkt. Indem sich die Filmemacherin von der individuellen Sicht ihrer Figuren löst, verwischt sie deren Konturen ins Prototypische.
Die junge Hausangestellte wird zur Verbündeten des Liebespaars, ganz ohne Standesressentiments. Als sie schwanger wird, unterstützen sie die beiden Frauen bei einer Abtreibung, die sie später auch noch für ein Gemälde nachstellen. Auf einem surreal anmutenden Fest erhebt ein selbstbewusster Frauenzirkel die Stimmen zu einem mitreissenden A-cappella-Gesang. Zu Hause am Kaminfeuer debattieren die drei die Sage von Orpheus und Eurydike. In schauerromantischen Einsprengseln erscheint Marianne plötzlich ein Trugbild von Héloïse im weissen Hochzeitskleid. Ein bisschen viel Symbolik packt Sciamma in die zweite Filmhälfte hinein. Metaphorisch mag das Sinn ergeben, historisch seine Berechtigung haben, dramaturgisch passt es nicht so recht.
Statt diese wunderbare Liebesgeschichte, die nicht nur, aber eben auch für sich selbst spricht, zu Ende zu erzählen, will Sciamma, die wie immer auch das Drehbuch verfasste, am Beispiel ihrer Liebenden noch allerhand vorführen. Das ist am Ende eine Spur zu viel, ändert jedoch nichts daran, dass sich die französische Filmemacherin, die in Cannes mit der Queer Palm und dem Preis für das beste Drehbuch geehrt wurde, diese Auszeichnungen verdient hat. Normalerweise nämlich steckt in Originaldrehbüchern eher zu wenig.

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