Madame

Stéphane Riethauser
Wer anders ist, bleibt oft allein. Umso wichtiger ist es, Verbündete zu finden. Zum Beispiel die eigene Grossmutter.
Das erste Mal, wenn wir Stéphane gemeinsam mit seiner Oma Caroline sehen, kommt es zum Streit. Allerdings wirkt die Auseinandersetzung auf der alten VHS-Aufnahme eher wie ein Spiel, an dem beide ihre Freude haben. Anlass der Aufregung ist die im Wuschelstil der Neunzigerjahre gehaltene Frisur des Jungen, die bei Caroline für Entsetzen sorgt. Er sehe ja aus wie Quasimodo, wie ein Idiot. Irgendwann gibt der Enkel nach und lässt sich frisieren, aber der brave Seitenscheitel, den sie ihm gemacht hat, erinnert ihn zu sehr an einen Chorknaben. Wenig später, wenn wir uns durch Berge an Material aus dem Familienarchiv wühlen, fällt noch etwas anderes auf: Mit seinem Scheitel sieht der Junge auch genauso aus wie sein Vater.
Diese frühe Szene ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend für Stéphane Riethausers dokumentarischen Essay Madame, der als Brief an seine schon länger verstorbene Grossmutter formuliert ist. Mithilfe eines unglaublich reichhaltigen Fundus aus alten Home Movies, Fotoalben, Tonaufnahmen, Postkarten und Tagebucheinträgen zeigt der Schweizer Filmemacher, wie Caroline und er trotz generationsbedingter Unterschiede eines gemeinsam haben: Sie litten unter den strikten Rollenbildern ihrer Zeit. Caroline, weil sie sich, in einer Ära, in der Frauen noch unterwürfig sein sollten, herausnahm, sturköpfig und selbstständig zu leben. Und Stéphane, weil er ein richtiger Patriarch wie sein Vater werden sollte, aber tatsächlich ein sensibler schwuler Junge mit künstlerischen Ambitionen war.

Wie komplex das gesellschaftliche Geflecht war, in dem die beiden aufgewachsen sind, wird immer dann deutlich, wenn eine Dissonanz zwischen Bild und Ton entsteht. Manchmal stellt Riethauser seinen selbst eingesprochenen Kommentar und den Interviews mit Caroline Archivmaterial gegenüber, in dem das Gesagte nicht bloss veranschaulicht wird. Einmal erzählt Caroline etwa, wie sie ohne jegliche Hilfe ihr erstes Kind zur Welt brachte, während man Super-8-Aufnahmen von ihrer Schwiegertochter sieht, die als frischgebackene Mutter liebevoll umsorgt wird. Madame verwendet die Familienmitglieder in solchen Momenten wie Synonyme, schichtet ihre Biografien übereinander und zeigt damit, wie sich die Lebensstationen zwar gleichen, die Erfahrungen aber doch gänzlich andere sind. Dabei sind die Figuren immer auch von ihren Umständen geprägt. Wenn Caroline über die modernen Mannsweiber schimpft oder Stéphane unreflektiert die unverblümt homophobe Weltsicht seines Vaters übernimmt, werden sie als Kinder ihrer Zeit und Sklaven ihrer Erziehung entlarvt.
Der Druck von aussen offenbart sich, wenn die Oma ihren Enkel mit der Macht der Haarbürste in einen «seriösen Jungen» verwandeln will. Das ist in diesem Moment zwar lustig, aber Madame versammelt gleich mehrere solcher Momente, in denen jemandem ein fremdes Bild aufgezwungen wird. Caroline selbst konnte sich solchen Übergriffen anscheinend erfolgreich entziehen. Der Preis, den sie als alleinerziehende Mutter zahlen musste, war jedoch, dass sie von ihrer Familie verstossen wurde. Auch später sorgte ihr Freiheitsdrang und Geschäftssinn dafür, dass sie die meiste Zeit allein blieb. Stéphane hingegen kam schlechter mit dem äusseren Druck zurecht. Schwul waren für ihn erst mal nur die anderen, was dazu führte, dass er selbst ein anderer werden musste. Mit viel Emphase wird der lange Weg der Verdrängung nachgezeichnet. Schliesslich erfand der Junge eine Kunstfigur, in die er immer wieder schlüpfte. Dabei war sein Alter Ego Riton alles, was Stéphane nicht sein konnte: selbstbewusst, ungehobelt und sexistisch.

Am stärksten ist Madame, wenn er solche Einblicke in die Psyche seiner Protagonist_innen gibt, behutsam Erinnerungen sammelt, sie mit popkulturellen Versatzstücken anreichert und die Gefühle von einst noch einmal hervorzurufen versucht. Als Riethauser von der heimlichen Liebe zu einem Mitschüler erzählt, wechseln sich alte Fotos mit homoerotisch anmutenden Zeichnungen aus dem Kinderbuch «Le prince Eric» ab, während dazu Richard Andersons Teenager-Ballade «Reality» aufgedreht wird. So, wie die Vergangenheit hier zur poetisch überhöhten Fiktion wird, sind es Fantasiewelten, in denen Stéphane ein Ventil für seine innere Zerrissenheit und frühpubertären Energien findet; nämlich ziemlich durchgeknallte, selbst gedrehte Filme, die comicartige Western-Schlägereien und übersexualisierte Drag Shows zeigen. Auch Caroline fühlte sich vor allem in der Kunst frei: früher, wenn sie als Schauspielerin auf der Bühne stand, und später, wenn sie tagelang an ihren Gemälden feilte.
Obwohl die Grossmutter mit ihrem bewegten Leben und der frechen Schnauze zweifellos eine interessante Filmfigur ist, fallen die Passagen mit ihr doch etwas konventioneller und blasser aus. Das liegt an den eher klassischen Interviewsituationen, dem deutlich zurückgenommenen Archivmaterial, vor allem aber daran, dass es eben einen Unterschied macht, ob man einer recht sachlichen Erzählung lauscht oder – wie bei ihrem Enkel – die inneren Kämpfe hautnah miterlebt. Vielleicht ist der etwas distanziertere Blick auf eine bereits Verstorbene und damit Wehrlose aber auch irgendwie konsequent. Madame ist immerhin ein Film darüber, wie das eigene Begehren gegen äussere Zwänge und Projektionen verteidigt wird. Da ist es kein Wunder, dass das entschieden Subjektive alles andere überstrahlt.

Gefällt dir Filmbulletin? Unser Onlineauftritt ist bis jetzt kostenlos für alle verfügbar. Das ist nicht selbstverständlich. Deine Spende hilft uns, egal ob gross oder klein!