Midnight Traveler

Hassan Fazili
Weltreisedokus haben Konjunktur. Doch in Midnight Traveler geht es für einmal nicht um zivilisationsmüde Sinnsuche, sondern um eine Flucht vor den Taliban.
Tausende Kilometer durch Asien und Europa. Festgehalten auf drei Handykameras. Das klingt wie eine der boomenden Weltreisedokus, in denen Alternativtourist_innen und Zivilisationsaussteiger_innen mit Digitalkameras und Drohnen im Gepäck losziehen, um ihren Horizont zu erweitern. Raus aus der Komfortzone, rein ins Abenteuer. Auf der Suche. Nach Sinn. Und sich selbst.
Das Einzige aber, was Regisseur Hassan Fazili und seine Frau Fatima Hossaini, ebenfalls Filmemacherin und Schauspielerin, suchen, als sie 2015 mit ihren Töchtern Nargis (11) und Zahra (6) aus Afghanistan aufbrechen, sind Schutz und Sicherheit. Sie reisen nicht, sie fliehen.
2014 drehte Fazili einen Dokumentarfilm über Mullah Tur Jan, einen Kommandanten der Taliban, der aus dem bewaffneten Kampf ausstieg. Kurz nachdem Peace in Afghanistan im afghanischen Fernsehen lief, wurde Mullah Tur Jan von den Taliban ermordet. Einige Zeit später erhielt Fazili einen Anruf von einem alten Freund, der sich mittlerweile den Taliban angeschlossen hatte und ihn warnte, dass sein Leben in Afghanistan nicht länger sicher sei. Fazili und seine Familie mussten fliehen.

Midnight Traveler hat keine gestochen scharfen Panoramen oder in sonnige Farben getauchten Landschaftsbilder zu bieten. Nur verwackelte Aufnahmen, durch Gestrüpp stolpernde Beine und betongraue, mit Stacheldraht eingezäunte Baracken. Fazili flieht mit seiner Familie über den Iran zunächst in die Türkei. Die erste Etappe legen sie im Auto zurück. Sie fahren nachts. Zwischendurch kommen sie bei Verwandten und Bekannten unter. Dann begeben sie sich in die Hände von Schleppern. Die Männer, die plötzlich mehr Geld verlangen und damit drohen, die Töchter zu entführen, sieht man im Film nicht. Zu sehen ist nur, wie die Mutter hinterher verzweifelt weint, während andere Flüchtlinge sie zu beruhigen versuchen.
Drei Jahre lang dokumentiert die Familie ihre Flucht über die Balkanroute mithilfe von drei Handykameras. Dennoch können sie vieles von dem, was sie unterwegs über sich ergehen lassen müssen, nicht filmen, weil die Behörden oder die Umstände es nicht zulassen. Das Schlimmste findet im Off statt. Mehrere Tage müssen sie in Bulgarien im Gefängnis verbringen. Später werden sie auf offener Strasse von bulgarischen Nationalisten angegriffen und mit Steinen beworfen.

An einem anderen Abend, im Flüchtlingsheim, läuft die Kamera. Fazili hält das Handy durch eines der vergitterten Fenster, versucht, die tobende, schreiende Menge einzufangen, die sich vor dem Lager zusammengerottet hat. «Wir greifen an! Wir greifen an!», skandieren die Nationalisten auf Bulgarisch. Im Hintergrund hört man Fazilis Töchter weinen. Auf den Fluren herrscht ein wildes Gedränge. Einige Männer kehren verletzt von draussen zurück. «Das hättest du filmen sollen», ruft einer und berichtet, wie die Polizisten mit dem Mob gemeinsame Sache gemacht und die Flüchtlinge mit Elektroschockern attackiert hätten.
Es sind Aufnahmen wie diese, die Midnight Traveler zu einem einzigartigen Zeitzeugnis machen. Der Filmemacher und Künstler Fazili versteht sein Werk jedoch nicht als historisches Videoarchiv. Aus den vielen Offkommentaren, mit denen er und seine Tochter Nagris die fragmentarischen Bilder in einen narrativen Kontext einbetten, lassen sich die Stationen ihrer Flucht nur vage rekonstruieren. Fazili blendet keine Orts- und Datumsangaben ein und lässt auch die organisatorischen, technokratischen und juristischen Aspekte im Ungefähren. Dafür entfaltet der Film im Montagegewitter übergangslos einprasselnder Eindrücke eine umso unmittelbarere Wirkung.
Impressionen einer Flucht. Mal schlafen die vier nachts in einem Rohbau. Ein andermal direkt am Strassenrand. Als sie über die grüne Grenze nach Serbien fliehen, verbringen sie vier Tage und Nächte im Wald. Im Film ist das in wenigen Sekunden erzählt. Mehrfach verdichtet Fazili die Fluchterlebnisse zu schlaglichtartigen achronologischen Sequenzen, in denen bisweilen auch das Ringen um ein wenig alltägliches Glück aufflackert. Hussaini lernt im Flüchtlingslager Fahrrad fahren. Die Töchter liefern sich eine Schneeballschlacht. Gemeinsam mit der Produzentin und Cutterin Emelie Mahdavian kreiert Fazili im Spannungsfeld von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit einen assoziativen Erzählrhythmus, der dem Film im Verbund mit seinem wuchtigen, emotionalen Score eine faszinierende Dynamik verleiht.

Fazili lernte Mahdavian zu Beginn seiner Flucht in Tadschikistan kennen und schickte ihr von unterwegs wann immer möglich die aktuellsten Handyaufnahmen. Während Fazili noch floh, bemühte sich Mahdavian bereits um die Filmförderung. Eine paradoxe Situation, die im Film selbst nicht thematisiert wird. Dafür schildert Fazili darin umso eindringlicher, wie das Filmen sein Erleben veränderte. Als seine Tochter Zarah einmal für mehrere Stunden verschwunden war und sie im Flüchtlingslager überall verzweifelt nach ihr suchten, schoss ihm plötzlich der furchtbare Gedanke in den Kopf, was für ein starkes Filmmotiv es wäre, wenn er vor laufender Kamera ihren leblosen Körper aus dem Gebüsch ziehen würde. «Und ich hasste mich dafür», gesteht Fazili aus dem Off. Das Bild bleibt dabei schwarz. Fazili filmte die Suche nicht. Zarah tauchte unversehrt wieder auf.
Für die Flucht der Familie ist ein ähnliches Happy End vorläufig nur eine schöne cineastische Imagination. Fazili hofft derzeit auf dauerhaftes Asyl in Deutschland. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Da er erstmals in Ungarn registriert wurde, droht ihm und seiner Familie die Abschiebung.

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