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Mid 90s

Ein Film wie ein gutes Hip-Hop-Mixtape. Jonah Hills Regiedebüt vertieft sich in die Texturen der Neunzigerjahre. Gelegentlich identifiziert er sich dabei etwas zu sehr mit seinen Protagonisten.

Text: Julian Hanich / 15. Apr. 2019

Es beginnt mit einem Knall: In der ersten Einstellung sehen wir einen stillen, giftgrün gestrichenen Korridor in einem Apartment irgendwo in Los Angeles, Mitte der Neunzigerjahre, als plötzlich ein Junge mit voller Wucht gegen die Wand donnert. Stevie – hübsch, schmächtig und eindeutig zu klein für seine dreizehn Jahre – bezieht wieder einmal Prügel von seinem älteren Bruder Ian. Und das ist erst der Anfang einer Reihe von harten Aufschlägen: Als wollte der Teenager partout mit dem Kopf durch die Wand, wird sein Körper noch einige Male schmerzhaft mit der Widerständigkeit der Welt konfrontiert. Mit Böden. Mit Tischen. Mit Windschutzscheiben. Mit Fäusten. Aber in dieser sonnendurchfluteten, beinahe märchenhaften Coming-of-Age-Geschichte schafft es Stevie irgendwie immer, nur mit einem blauen Auge davonzukommen.

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Als Teenager in einer zerrütteten Mittelschichtsfamilie ohne Vater muss Stevie seinen Platz in der Welt noch finden. Und es ist das vielleicht eindrucksvollste Verdienst der schlanken 85 Minuten von Mid90s, dem Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill, uns vor Augen zu führen, wie stark das Älterwerden mit dem Austesten und Aneignen fremder Räume verknüpft ist. Wir sehen Stevie im Lauf der episodisch erzählten Sommerwochen zaghaft Türen öffnen, über Zäune klettern, verbotene Räume in Beschlag nehmen, in Alkohol- und Drogendelirien hinabsinken und mit seiner Zunge zögerlich in den Mund einer jungen Frau eindringen. Anfangs schläft Stevie noch in Teenage--Mutant-Ninja-Turtles-Bettwäsche und verbringt seine Nachmittage auf der Couch mit der Computerspielkonsole. Doch bald beginnt er, sich aus dieser Komfortzone zu schälen. «Stay out of my fucking room, Stevie!», schreit Ian, bevor er ausser Haus geht. Und natürlich ist das Erste, was Stevie macht, ins Zimmer seines Bruders zu rennen.

Dort tut sich ein magisches Reich auf – nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für uns, zumindest diejenigen von uns, die die Neunzigerjahre als Teil der Hip-Hop-Kultur erlebt haben. Es ist ein Reich der Zeichen und Popkulturcodes: Wu-Tang-Clan-Poster, Football-Shirts, Eric-B.-and-Rakim-CDs, selbst gemixte Kassetten, Baseballkappen, Air-Jordan-Sneakers und Musikmagazine mit Slick-Rick-Cover. In Szenen wie diesen errichtet der Film ein Monument für den weltweiten Siegeszug der schwarzen Hip-Hop-Kultur, die in den Neunzigerjahren endgültig auch die weissen Kids in ihren Bann schlug. Vorsichtig berührt Stevie die Objekte, eingeschüchtert von ihrer Aura, während über uns Zuschauer_innen eine riesige Welle der Nostalgie schwappt. Zumindest darf man hierin eine Absicht dieses genau rekonstruierten period piece vermuten, das die Vergangenheit nicht nur durch Ausstattung und Musik (von den Pixies und Seal bis zu den Gravediggaz und Cypress Hill) wiederbelebt. Hill und sein Kameramann Christopher Blauvelt versuchen, die Neunzigerjahreästhetik sowohl im Bild als auch als Bild greifbar zu machen: Auf Super-16-mm-Material und im 4:3-Format gedreht, mit einer flachen Tonspur, wirkt der Film oft wie ein Fundstück aus einer vergangenen Epoche.

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Schrittweise erweitert sich Stevies Radius. Er tauscht sein BMX-Rad gegen ein Skateboard und taucht ein in das geheimnisvolle Cool der Skatersubkultur. Langsam verwandeln sich seine Sprache, sein Kleidungsstil, seine Gestik und sein Gang unter dem Einfluss seiner Freunde Ray, Fuckshit, Fourth Grade und Ruben (die zum Teil von professionellen Skatern wie Na-Kel Smith und Olan Prenatt gespielt werden). Mid90s zeigt die Hierarchien, Rivalitäten und Eifersüchte von Teenagergruppen, wenngleich die Härten des Ausgeschlossenseins etwas zu sanft abgefedert werden. Der Film beschränkt sich auf die männliche Perspektive – Frauenfiguren spielen nur am Rand eine Rolle. Jonah Hill, der auch das Drehbuch geschrieben hat, hört dabei sehr genau hin: Ein faszinierender Teil der Textur dieses Films ist das vernuschelte verbale Posen, das im Dienst seines Subkultur-Authentizitätseffekts auch homophobe und frauenfeindliche Sprüche enthält. Man hat dem Film vorgehalten, dagegen keine klare Stellung zu beziehen. An diesem Vorwurf ist etwas dran: Am Ende kommt es zwar zu einem grossen Knall, aber wohin die fragwürdige Form der Maskulinität der fünf Jungs später führt – wir erfahren es nie.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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