Filmbulletin Print Logo
Cronophobia1

Cronofobia

Eine Frau, die sich nach Ersatz für ihren verstorbenen Ehepartner sehnt, trifft auf einen Mann, der sich etwas zu widerstandslos in diese Rolle pressen lässt.

Text: Stephanie Werder / 01. Juli 2019

Anna versucht, den Tod ihres Ehemanns zu verdrängen, ist erschüttert, instabil und verhält sich unberechenbar. Eines Abends steigt sie in den Van eines Fremden, von dem sie jedoch weiss, dass er ihr aufgelauert hat: Michael ist ein einsamer Aussenseiter und wird heimgesucht von einem traumatischen Erlebnis; er wirkt auffällig unauffällig. Seine Absichten gegenüber Anna bleiben lange im Dunkeln …

Nach dem Schema «zwei Schritte vor, einen zurück» vollzieht sich in Cronofobia die langsame Annäherung der zwei Hauptfiguren, zwischen denen eine seltsame Anziehung herrscht. Die beiden geraten in ein bedenkliches Rollenspiel: Anna tut so, als ob ihr Mann nicht gestorben wäre, und Michael schlüpft allmählich in die Rolle des Verstorbenen – von Anna tatkräftig unterstützt. Es ist unangehm zuzusehen, wenn sich Michael in die Gestalt des toten Ehemanns pressen lässt. So lernt er zum Beispiel, seine Zigaretten so zu rauchen wie Annas Mann: Sie biegt ihn dabei geradezu zurecht. Beklemmend sind die Szenen, in denen Anna realisiert, dass der Verstorbene durch Michael nicht zurückzuholen ist.

Cronophobia3

Anna kann die Selbsttäuschung nur mit Mühe aufrechterhalten, und das Unterdrückte droht jeden Moment aus ihr herauszuplatzen. Michael hingegen beherrscht das Spiel perfekt und stört sich nicht daran, für Anna den Verstorbenen zu geben. Auch bei der Arbeit ist er nicht er selbst: Als Testkäufer spielt Michael diverse Rollen, um in verschiedenen Firmen die Integrität von Mitarbeitenden zu prüfen, die des Betrugs verdächtigt werden. Verkleidet, auch mal mit falschem Schnurrbart unter der Nase, fliegt er dabei niemals auf.

Michael kann nur andere spielen. Das fein nuancierte, berührende Drama wäre auch ohne die psychologische Begründung dafür ausgekommen: Sein älterer Bruder habe Michael geheissen, so erzählt er Anna einmal, doch dieser sei früh gestorben. Die Eltern hätten den Namen dann ihm, ihrem zweiten Kind, (weiter)gegeben. So führt Michael schon seit seinem ersten Lebenstag ein Dasein als Stellvertreter, ist dazu geboren, die Identitäten anderer anzunehmen. Weder seine Mutter, die er einmal im Altersheim besucht, noch Anna wollen etwas Persönliches von ihm wissen. Gleichsam als Aufbegehren des Unterdrückten durchbrechen Michaels verstörende Visionen und Tinnitusgeräusche die sonst in ruhigen Bildern erzählte, geradlinige Geschichte.

Cronophobia2

Passend zu seiner «fehlenden Identität» wird Michael nicht nur immer wieder als passiver Beobachter, sondern auch als Zuhörer inszeniert. Seinen Angstzuständen versucht er mit auf dem Handy abgespielten Wassergeräuschen zu entkommen, oder er taucht beim Autofahren in ein Hörbuch ab. Anna, von Beruf Coiffeuse, bemerkt beim Haareschneiden einmal zärtlich, dass Michael «interessante Ohren» habe – an dem, was er zu sagen hätte, ist sie weniger interessiert.

Feines Gespür legt Rizzi besonders auch bei der Wahl der Schauplätze an den Tag. Für seine Aufträge reist Michael durch die ganze Schweiz, wobei aber keineswegs pittoreske Postkartenbilder entstehen. Die meisten Settings sind kalte, anonyme Durchgangsräume, die keinerlei Geborgenheit vermitteln: Tankstellen, Einkaufszentren, ein Hotelzimmer, oder Michaels Van, der – Vehikel eines Verlorenen – frei ist von eigenen Gegenständen und sich ständig in Bewegung befindet. Fehlt diesen Orten das Persönliche, so werden die Figuren in Annas Haus beinahe erdrückt von Erinnerungen an den verstorbenen Mann.

Cronophobia4

Mehrmals treffen sich die Protagonist_innen in einem ungemütlichen Autobahnrestaurant. Auf dem Tisch stehen Maggiwürze und eine Dose Aromat (etwas Schweiz ist eben doch zu sehen). Dort sehnen sich Anna und Michael gemeinsam nach einem paradiesischen Ort der Gemütlichkeit und Wärme, wie ihn Charles Bukowsky in seinem Gedicht «Nirvana» entwirft, das Anna beschreibt und das später als Voice-over zu hören ist. Im Lauf des Films wird jedoch klar: Zusammen finden die Figuren ihr Glück nicht. Kathartisch wirkt ihre Trennung, die sich als Rollenspiel vollzieht, wenn Michael Anna «als ihren Mann» verlässt.

Wenn Michael zum Schluss alleine in einem Restaurant haltmacht, verbildlicht sich das Gedicht. Der Reisende wird vom Personal herzlich umsorgt – sie verzeihen ihm sogar, dass er sich eine Zigarette ansteckt, draussen fällt Schnee. Er fühlt sich wohl an diesem Ort, genau wie der junge Mann bei Bukowsky: «And he wanted to stay in that cafe forever. The curious feeling swam through him that everything was beautiful there and it would always stay beautiful there.» Michael findet sein tröstliches Nirwana, den Punkt, an dem das Leben und Leiden verlischt – hier wird er nicht mehr in neue Rollen «hineingeboren». Hier verändert sich nichts, die Zeit, vor der die Protagonist_innen sich – gemäss dem Titel des Films – fürchteten, steht endgültig still.

Cronophobia5

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

22. Dez. 2020

Contra

Ein rassistischer Professor und eine maghrebinische Studentin finden im erzwungenen Ringen zu gemeinsamem Boden. Regisseur Sönke Wortmann zeigt, dass die französische Vorlage im deutschen Nachbarland genauso relevant ist.

Kino

01. Feb. 2005

Tout un hiver sans feu

Der Jura ist eine der düsteren Gegenden des Kontinents, wohl die düsterste der Schweiz, mit dumpfen weissen Wintern und einem Licht, das auch im Sommer nirgendwo hinreicht. Die diesige, bleierne Schönheit der Weiden, Hochplateaus und Canyons ist in der Fotografie von Witold Plociennik exemplarisch eingefangen. Sie macht das Statische, Widerborstige, in sich Gekehrte der Region sichtbar.