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Photograph

Sehnsucht statt Sinnesrausch: eine atmosphärische, stille Liebesgeschichte aus Indien, dem Land des Bollywoodspektakels.

Text: Stefan Volk / 09. Juli 2019

Laut und hektisch, so stellt man sich das Leben in der Millionenmetropole Mumbai gemeinhin vor. Schrill und bunt, was das indische Kino daraus macht. Beides stimmt, und es stimmt auch wieder nicht. Neben der schillernden Perspektive Bollywoods existieren noch andere Blickwinkel auf die Menschen in Mumbai. Zum Beispiel der träumerisch ruhige und poetisch nachdenkliche in Ritesh Batras Photograph.

«Die Geschichten im Kino», lässt Batra seinen Protagonisten gegen Ende des Films sagen, «sind heutzutage alle gleich: Ein wohlhabendes Mädchen verliebt sich in einen armen Jungen, und die Eltern des Mädchens stellen sich dem Glück der beiden entgegen. Eine Zeit lang zumindest.» In Photograph erzählt Drehbuchautor und Regisseur Batra eine solche Geschichte. Er hätte seinen Helden aber wohl nicht über die immer gleichen Filme stöhnen lassen, wollte er sie nicht anders erzählen als üblich.

Nach der in Grossbritannien produzierten Literaturverfilmung The Sense of an Ending (2017) und der Netflix-Romanze Our Souls at Night (2017) mit Robert Redford und Jane Fonda knüpft Batra mit seinem vierten Spielfilm an sein in Mumbai angesiedeltes Kinodebüt Lunchbox (2013) an, mit dem er vor sechs Jahren ein internationales Arthousepublikum verzauberte. Gewissermassen mit einem Lächeln auf den Lippen schaut Batra auch hier wieder geduldig dabei zu, wie aus einer zufälligen Begegnung eine innige Vertrautheit erwächst.

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In Photograph sind es ein armer Strassenfotograf und eine Wirtschaftsschülerin aus gutem Hause, die sich vor dem Gateway of India über den Weg laufen. Er überredet sie zu einem Foto, druckt es in seinem mobilen Fotoprinter aus, überreicht ihr das Bild mit dem Standardspruch für Tourist_innen: «Dieser Tag in einem Foto». Als er sich aber bückt, um nach einem Umschlag zu kramen, wird die junge Frau von ihren Begleiterinnen gerufen. Sie läuft davon, vergisst zu bezahlen und verschwindet in der Menge.

Die Fremde heisst Miloni, besucht eine Wirtschaftsprüferschule und bereitet sich gerade auf ihr Examen vor. Sie ist jung, ihre Haut hell. Rafi, mit dem dunklen und von der Sonne gebräunten Teint, könnte vom Alter her ihr Vater sein. Während Miloni in einem grossen Haus mit eigenen Bediensteten wohnt, haust Rafi zusammen mit anderen Kollegen in einer schäbigen Kammer. Der Kontrast könnte grösser kaum sein. Das Einzige, was die beiden anfangs zu verbinden scheint, ist, dass sie verheiratet werden sollen, jeweils mit «ihresgleichen», versteht sich. Rafis Grossmutter Dadi, die auf dem Land lebt, hat aus Verzweiflung darüber, dass ihr Enkel noch immer Junggeselle ist, bereits aufgehört, ihre Medikamente zu nehmen. Um sie zu besänftigen, schickt Rafi ihr einen Brief mit dem Foto der hübschen Unbekannten vom Gateway, die er, inspiriert von einem Lied aus dem gleichnamigen alten indischen Liebesdrama, Noorie nennt und kurzerhand zu seiner Verlobten erklärt.

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Dadi freut sich darüber so sehr, dass sie nicht nur ihre Tabletten wieder schluckt, sondern auch ihren Besuch in Mumbai ankündigt. Als Rafi und Miloni einander entgegen aller Wahrscheinlichkeit im Bus wiederbegegnen, bittet Rafi sie, für ein paar Tage seine Freundin zu spielen. Zögerlich lässt sich Miloni darauf ein. Bald jedoch findet sie nicht nur an der resoluten und zugleich herzensguten Grossmutter Gefallen, sondern fühlt sich auch zu Rafi auf mysteriöse Weise hingezogen.

Es ist keine leidenschaftliche Affäre, die sich zwischen den beiden entspinnt, und alles andere als eine Amour fou. Nicht Lust, kein Sinnesrauschen bringt das Paar einander näher, sondern eine sanfte unterschwellige Sehnsucht und das Gefühl einer geheimen inneren Verbundenheit. An einem regnerischen Abend trinken beide in einem kleinen Strassenlokal Chai. Miloni erzählt von ihrem Grossvater, der ihr früher als Kind jeden Tag die indische Campa Cola gekauft habe. Dann sei er gestorben und Campa Cola nicht länger hergestellt worden. Eine andere Cola könne sie seitdem nicht mehr trinken. Rafi versteht das sofort. Sein verstorbener Vater, erinnert er sich, habe ihn und seine Geschwister früher immer am Monatsende zu einem Kulfi eingeladen. Wenn er jetzt Kulfi esse, dann nur am Ende des Monats. Kurz lächeln beide, dann sehen sie wieder scheu beiseite. Ein wunderbar inniger Moment. Zwei zerbrechliche Menschen, die sich behutsam einander öffnen.

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Wie unzählige Bollywoodromanzen zuvor variiert Photograph das Romeo-und-Julia-Motiv einer ungleichen, gesellschaftlich und familiär tabuisierten Liebe. Anstatt diesen Konflikt aber melodramatisch zu überhöhen und aufzulösen, hält Batra ihn in der Schwebe; in einem melancholischen Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit, in dem Geister nachts auf dem Balkon Zigaretten rauchen. Bis zum Schluss bleibt unübersehbar, wie unterschiedlich die Welten sind, aus denen die beiden Liebenden stammen. Während Miloni entsetzt zusammenzuckt, als in dem alten, billigen Kino, in das Rafi sie führt, eine Ratte über ihre Füsse huscht, ist das für ihn ganz normal. So sehr haben sich die sozialen Kasten in ihre Körper eingeschrieben, dass Miloni im Gegensatz zu Rafi kein Eis von der Strasse verträgt.

Photograph zeichnet das Bild einer zwischen Stadt und Land, Reich und Arm zutiefst zerklüfteten indischen Gegenwartsgesellschaft, in der ein harmonisches Miteinander vorerst womöglich nur als cineastisches Sehnsuchtsgemälde existiert. Batra malt es mit warmen hoffnungsvollen Farben im staubigen Gegenlicht, voll regnerischer Poesie, mit wundervollen, charismatischen Darsteller_innen und mit einem zurückhaltenden, wehmütigen Score, der emotionale Akzente setzt, ohne sich vor die Bilder oder in die Geschichte zu drängen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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