There is no Evil

Mohammad Rasoulof
Vier Geschichten, die miteinander verbandelt sind, nicht nur über Fragen der Schuld und Moral. Rasoulof, der im Iran heimlich, mit Widerstand und etwa im Auto dreht, liefert einen kraftvollen, aber auch feinfühligen Beitrag zum iranischen Gegenwartskino.
«Es gibt kein Böses» – heisst übersetzt Mohammad Rasoulof neuer Film, der auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Doch bei der Pressekonferenz blieb der Platz des Regisseurs leer, nur ein Namensschild deutete darauf hin, dass er eigentlich im Mittelpunkt des Interesses stand. Rasoulof hat, ähnlich wie Jafar Panahi, Berufsverbot und darf den Iran nicht verlassen, obwohl er in Hamburg seinen zweiten Wohnsitz hat. Wie und wo sein Film entstand, wollte der Produzent Kaveh Farnam nicht verraten, um die Beteiligten zu schützen. Ein Trick war es, den Zensurbehörden die Drehbücher der einzelnen Episoden als vier separate Kurzfilme vorzulegen.
Vier Episoden, vier kurze Geschichten: Heshmat fährt mit seiner Frau im Auto zur Bank. Während sie Geld abheben soll, sucht er im ruppigen Strassenverkehr Teherans nach einem Parkplatz. Gemeinsam holen sie anschliessend ihre Tochter von der Schule ab, gehen einkaufen, essen Pizza. Später färbt Heshmat seiner Frau die Haare – eine wunderschöne Geste der Hilfsbereitschaft und Demut: Mann und Frau führen, trotz einiger Ärgernisse, ein normales Leben auf Augenhöhe.

Mitten in der Nacht sehen wir Heshmat auf der Arbeit in einem kleinen Kabuff. Fünf grüne Leuchten blinken, Heshmat blickt durch ein kleines Fenster, fünf rote Leuchten blinken, Heshmat wäscht Gemüse, und als das Blinken zum Dauerrot erstarrt, drückt er auf einen Knopf. In der zweiten Episode arbeitet ein junger Soldat im Todestrakt eines Gefängnisses. Als er den Befehl erhält, einen zum Tode verurteilten Mann hinzurichten, diskutiert er zunächst mit seinen Zimmergenossen, dann am Telefon mit seiner Freundin.
Bis er schliesslich aus dem Todestrakt ausbricht und so seine Zukunft riskiert. In der dritten Episode reist ein anderer Soldat in die Provinz, um seiner Geliebten einen Heiratsantrag zu machen. Doch der Tod eines Freundes, der vom Regime hingerichtet wurde, überschattet das Vorhaben. In der vierten Episode besucht eine iranische Studentin, die aus Hamburg angereist ist, ihren Onkel in den einsamen Bergen Irans. Sie wird mit einem Geheimnis konfrontiert, das sie erschüttert.
Gedreht hat Rasoulof, wie schon Jafar Panahi in Drei Gesichter und Taxi Teheran, im Auto in Teheran oder in der abgelegenen Provinz. So ist zum Beispiel überhaupt nicht zu sehen, wie Heshmats Frau in die Bank geht. Die Kamera zeigt nur den Mann, wie er im Auto vor und zurück manövriert. Einmal nimmt er den Anruf des Bankangestellten entgegen, der eine telefonische Autorisierung der Geldabhebung verlangt – ein kurzer, beiläufiger Hinweis auf die Situation der Frau im Iran, die ohne ihren Ehemann nicht eigenverantwortlich handeln darf. Rasoulof, zuletzt mit A Man of Integrity in den Kinos, setzt mit dieser Episode das Thema für die restlichen Episoden.

Wir lernen Heshmat als freundlichen, hilfsbereiten Ehemann und Familienvater kennen, der gleichzeitig den grausamsten aller Berufe ausübt: Er ist Henker. Diese Erkenntnis ist für die Zuschauer_innen ein Schock – und eine eindeutige Kritik an der Willkür des Staates, der auf diese grausame Weise über Leben und Tod bestimmt. Umso grössere Bedeutung kommt den anderen Episoden zu. In ihnen wird die Möglichkeit der Entscheidung verhandelt, die Chance, «Nein» zu sagen, also Widerstand zu üben, zivilen Ungehorsam zu leisten. Denn jede Entscheidung hat schwere Folgen, politisch, aber auch privat.
Das wird besonders in der vierten Episode deutlich, die sich kunstvoll auf die zweite bezieht. Es geht somit nicht nur um Schuld und Moral, um Freiheit und Bedrohung, sondern auch um den Kreislauf des Lebens, in dem die erste Szene des Films mit der letzten zusammenhängt. Dass Rasoulof bei aller Kritik an der politischen Führung des Irans sein Land auch liebt, wird am interessierten Miteinander der Menschen deutlich, am lebendigen Trubel in Teheran, an der Schönheit der Landschaft, die der Regisseur immer wieder in aufregenden Totalen einfängt.
So entstand ein kraftvolles, feinfühlig inszeniertes und subtil verknüpftes Meisterwerk, das auch vor Pathos nicht zurückschreckt. Am Ende der zweiten Episode hören Mann und Frau im Auto das italienische Protestlied «Bella Ciao», gesungen von Milva. Es ist nicht die Partisanenversion des Zweiten Weltkrieges, sondern die Originalfassung von 1906, mit der die Arbeiter_innen in den Reisfeldern der Po-Ebene die harten Arbeitsbedingungen unter sengender Sonne beklagten. Auch das ein Akt des Widerstands.
Ab dem 22. Oktober in Deutschschweizer Kinos.
Regie, Buch: Mohammad Rasoulof; Kamera: Ashkan Ashkani; Darsteller_in (Rolle): Baran Rasoulof (Darya), Mohammad
Seddighimehr (Bahram). Produktion: Cosmopol Film, Europe Movie Nest, Filmiran; D, IR, CZ, 2020. 150 Min. Verleih CH: Trigon.
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