Cunningham

Alla Kovgan
Tanzen muss nicht Rhythmus sein. Oder zumindest kein sichtbarer. Merce Cunningham vermochte mit seinen Choreographien über Jahrzehnte die Gemüter zu spalten. Dieser einfühlsame Film erweckt seine Werke für ein zeitgenössisches Publikum wieder zum Leben.
Ein junger John Cage berichtet von schweren Vorwürfen nach einem Auftritt von Starchoreograph Merce Cunninghams Dance Company: Für den Abend habe eine Zuschauerin aus dem Umland extra einen Babysitter engagiert und ein Zugticket gekauft. Angesichts der in ihren Augen unzumutbaren Performance fühle sie sich nun um ihr Geld betrogen.
Cage, der zahlreiche Choreographien Cunninghams mit seinen experimentellen musikalischen Kompositionen veredelt hat, erzählt diese Geschichte auf gewohnt distinguierte Art, kann sich aber ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. Dass während der Aufführungen der Company durchaus mal Tomaten auf die Bühne flogen, scheint weder ihn noch seine Mitstreiter_innen aus der Ruhe gebracht zu haben.
Wenn die russische Regisseurin Alla Kovgan in ihrer Huldigung an Cunninghams alte Filmaufnahmen, Tondokumente und Briefe in hübsch arrangierten Split-Screens an uns vorüberziehen lässt, entsteht das Bild einer trotz prekärer Umstände recht entspannten Gruppe, die ein tiefes Vertrauen in ihre Arbeit oder zumindest in ihren charismatischen Leiter mit den wuscheligen Haaren und dem Hang zum Understatement hatte. Mit reiner Archivarbeit will sich Kovgan allerdings nicht begnügen.

Weil Tanz nichts fürs Museum ist, sondern immer wieder belebt werden muss, lässt sie mehrere von Cunninghams Stücken, die während 30 Jahren ab 1942 entstanden, für den Film neu aufführen. Schön an diesem multiperspektivischen Ansatz ist, wie anschaulich Philosophie und Ästhetik Cunninghams dadurch werden. Die grellfarbenen Stumpfhosen oder einige avantgardistische Regieeinfälle wie ein auf den Rücken gebundener Stuhl sind zwar nicht so gut gealtert, aber die Radikalität des Tanzes erschliesst sich immer noch.
Man glaubt zunächst einen Pas de deux, Pliés, Pirouetten oder andere Versatzstücke aus dem klassischen Ballett zu erkennen, aber der Ansatz ist doch völlig anders. Die Bewegungen sind nicht anmutig fliessend, sondern wirken stockend, mal alltäglich, mal ein bisschen kühl und mechanisch. «It is what it is», sagt Cunningham und unterstreicht damit, dass sein Tanz weder etwas ausdrücken noch auf ein Gefühl verweisen oder sich der Musik fügen soll.
Spätestens mit dem Einsatz von Stoppuhr und Zufallsprinzipien entsteht allerdings der Eindruck, alles müsse sich hier einem Konzept unterordnen. Doch dann spricht der Choreograph darüber, wie spontan und lebendig jede Bewegung wirken soll und dass auch niemand etwas zu tanzen braucht, was er nicht versteht. Kovgan versucht glücklicherweise nicht, jeden Widerspruch aufzulösen, und lässt etwa später ein Mitglied der Company zu Wort kommen, das den Leiter als Maler bezeichnet, für den die Tänzer_innen nicht mehr als Farben in einem Bild seien. Bescheidener Beobachter oder bestimmender Herrscher? Vermutlich ist beides wahr. Cunningham bleibt wie seine abstrakte und offene Arbeit ungreifbar, was auch heute noch irritierend und faszinierend zugleich wirkt.

Ohnehin scheint die Ausstrahlung des Choreographen massgeblich zu seiner Karriere beigetragen zu haben. Wie kein Anderer verstand es Cunningham, grosse US-Künstler_innen um sich zu versammeln. Pop-Art-Maler wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Andy Warhol entwarfen Bühnenbilder und Kostüme, während Komponisten wie Morton Feldman und Conlon Nancarrow die Musik beisteuerten.
Wenn Kovgan den Neueinstudierungen der Stücke schwarzweisse Archivaufnahmen gegenüberstellt, ist die enorme Bühnenpräsenz Cunninghams unübersehbar. Die weichen Bewegungen seines Oberkörpers seien unvergleichlich gewesen, meint einmal eine Weggefährtin.
Manchmal scheint sich Kovgan von dieser Aura zu sehr einschüchtern zu lassen. Wenn sie für die spektakulären 3D-Tanzszenen protzige Schauplätze wie ein Dach über der Skyline New Yorks oder den Stuttgarter Schlossplatz wählt, steckt darin ein tiefes Misstrauen gegenüber der subtilen Choreographie. Toll sind dagegen die Neuinszenierungen in alten Bühnenbildern; vor allem «Summerspace» (1958), für das Rauschenberg einst Bühne und Kostüme mit farbigen Punkten übersäte. Hier verschmelzen Bewegung und moderne filmische Technologie zu einer hinreissenden optischen Täuschung, bei der sich der Raum und die Tänzer_innen im flirrenden Farbenmeer auflösen. Packender kann man Cunninghams Choreographie wohl kaum für die Nachwelt erhalten.
Ab dem 29. Oktober in Deutschschweizer Kino.
Regie, Buch, Schnitt: Alla Kovgan; Kamera: Mko Malkhasyan; Musik: Volker Bertelmann; Mit: Carolyn Brown, John Cage, Ashley Chen, Brandon Collwes, Dylan Crossman, Julie Cunningham; Produktion: Arsam International; D, F, USA 2019. 93 Min. Verleih CH: Outside the Box.
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