Billie

James Erskine
Über Sängerin Billie Holiday ist noch längst nicht alles gesagt: In New Jersey wurden über 200 Stunden Interviewmaterial aus dem Umfeld der Jazzlegende gefunden. James Erskine schafft den Dokumentarfilm dazu.
Es war kein Zufallsfund auf einem Flohmarkt (wie im Fall der Fotografin Vivian Maier, der vor einigen Jahren zu dem bemerkenswerten Dokumentarfilm Finding Vivian Maier führte), sondern eine gezielte Recherche, durch die es einem Filmproduzenten gelang, einmaliges Material aufzutreiben, das die Basis für diesen Film lieferte. 125 Audiokassetten mit über 200 Stunden aufgezeichneter Interviews waren es, die er bei einem Sammler in New Jersey fand. Der hatte sie fast dreissig Jahre zuvor von der Familie der verstorbenen Interviewerin erworben. Linda Lipnick Kuehl hatte über acht Jahre hinweg Interviews mit Menschen aus dem Umfeld der grossen Jazzsängerin Billie Holliday geführt, um eine definitive Biografie zu verfassen. Doch ihr früher Tod 1978 kam dem zuvor.
Billie Holidays Lebensgeschichte vermeint man in Varianten schon einige Male gehört zu haben, zuletzt etwa bei Whitney Houston (der vor nicht allzu langer Zeit gleich zwei Dokumentarfilme, von Nick Broomfield und Kevin Macdonald, gewidmet wurden): Auch hier geht es um eine junge Schwarze Frau mit einer schweren Kindheit, die schliesslich dank ihres Gesangstalents den Durchbruch schafft, von den Männern ausgebeutet wird, Drogen nimmt und einen frühen Tod stirbt.

Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, sie selber wird als Elfjährige vergewaltigt und prostituiert sich in jungen Jahren, kommt von Marihuana zu Kokain und Heroin, wofür sie 1947 eine einjährige Gefängnisstrafe verbüsst. Sie liebt nicht nur Männer, sondern auch Frauen, auch wenn es immer die Männer sind, von denen sie nicht loskommt, gleich zweimal wird sie im Film als «Masochistin» bezeichnet. Auch ihr Manager John Levy behandelte sie schlecht und prügelte sie, genau wie ihr letzter Ehemann Louis McKay, was der Film mit dem Song «My Man» verbindet, in dem sie davon singt – aber auch davon, dass sie sich ihm trotzdem unterordne.
Ist sie deshalb ein Opfer? Auch, aber nicht nur. Erst durch ihre Interpretation wurde 1939 der Song «Strange Fruit», eine düstere Anklage gegen Rassismus und Lynchjustiz, wirklich bekannt, für ihre Arbeit mit Weissen Orchestern zahlte sie ihren Preis: auf Tourneen gab es wiederholt Lokale, in denen sie als Schwarze nicht bedient wurde, Hotels, in denen sie nicht übernachten durfte – sie musste im Tourbus schlafen. Aus einigen wenigen (eher späten) Gesangsauftritten von Billie Holiday, die auf Film festgehalten wurden, spricht ihr Selbstbewusstsein.

Widersprüchliche Aussagen lässt der Film als solche stehen, schneidet sie mehrfach sogar pointiert zusammen, am eindringlichsten, wenn der Schlagzeuger Jo Jones dem Produzenten John Hammond vorwirft, er habe Billie gefeuert, weil sie nicht das singen wollte, was er für kommerziell am einträglichsten hielt – was Hammond vehement bestreitet. Jedenfalls verdienten nicht nur Weisse (wie Hammond und John Levy) gut an ihr. Letzte bittere Pointe: Sie hatte schliesslich die Scheidung von Louis McKay eingereicht, starb aber, bevor sie die Papiere unterschreiben konnte – so wurde er zu ihrem Alleinerben, als sie 1958 mit nur 44 Jahren starb.
«Strange Fruit» hat mit dem 2020 so offensichtlich gewordenen Rassismus in den USA eine neue traurige Bedeutung gewonnen, das dürfte auch diesem Film die verdiente Aufmerksamkeit zukommen lassen. Er entreisst aber nicht nur Billie Holiday dem Vergessen, sondern ebenso jene Frau, ohne den es ihn nicht geben würde: Linda Lipnick Kuehl war eine Journalistin, die ihr Interesse an Künstlerinnen zuvor schon umgesetzt hatte und deren Faszination für Billie Holiday erwachte, als sie im Alter von 14 Jahren einen Song von ihr hörte. Kuehl starb 1978. Sie soll Selbstmord begangen haben, indem sie aus dem Fenster sprang.
Die Polizeiakten wurden vernichtet, so wurden die Todesumstände nie geklärt. «Jemand hat sie gestossen», mutmasst ihre Schwester und weist daraufhin, dass Linda eine Gesichtsmaske aufgetragen hatte, was sie immer tat, bevor sie zu Bett ging, zudem sei es ungewöhnlich, dass sie – als Autorin – keinen Abschiedsbrief hinterlassen habe. Nach neunzig Minuten kommen die Geschichten dieser beiden Frauen zusammen, Rätsel aber bleiben. Dazu passt Billie Holidays Antwort auf die Frage, welcher ihrer Songs sie wohl am besten beschreiben würde: «Don’t explain».
Ab 24. Dezember in Deutschschweizer Kinos.
Regie: James Erskine; Schnitt: Adhesh Mohla; Musik: Hans Mullens; Mit: Billie Holiday; Produktion: Altitude Film Entertainment, Concord, New Black Films, Polygram Entertainment; USA 2019. 96 Min. Verleih CH: Praesens.
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