J'accuse

Roman Polanski
Eine Militäraffäre entlarvt den antisemitischen Zeitgeist im Frankreich des Fin de Siècle. In Polanskis Kammerstück sind Gut und Böse eine Grauzone.
Alfred Dreyfus, Hauptmann und Mitglied des Generalstabs der französischen Armee, wird 1894 wegen Spionage zugunsten des Deutschen Kaiserreichs verurteilt. Man degradiert ihn zwei Wochen später. Ein langer Kameraschwenk über den riesigen Platz der École militaire, früher Morgen, Soldatenschritte hallen auf dem Pflasterstein, Presse und Schaulustige in guter Laune. Man reisst Dreyfus zuerst die Epauletten ab, dann die Knöpfe, die Lampassen, bricht ihm seinen Säbel.
Fin de Siècle, so werden wir im neuen Film von Roman Polanski erinnert, bot mehr als das frivole Moulin Rouge und Aperitifs in kleinen Gläschen. Nationalismus und Ausländerhass waren allgemeine Befindlichkeit, jüdischen Mitbürger_innen auf offener Strasse den Tod zu wünschen, war comme il faut. Man suchte nach Sündenböcken. Und so steht er da, Louis Garrel als Dreyfus, in einer Maske, die ihn kaum wiedererkennbar macht, des Lebenssinns beraubt, blass, doof frisiert, steif wie ein Stock und innerlich bebend.
Polanskis Film erzählt einen Riesenskandal. Die berühmte «Affaire Dreyfus» erschütterte das Land und wurde in ganz Europa zum einschneidenden Ereignis. Bekannt sein dürfte vor allem der berühmte offene Brief «J’accuse» an den Präsidenten der Republik, verfasst von Émile Zola und veröffentlicht in der Zeitung «L’Aurore». Hannah Arendt schrieb in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft», Georges Clemenceau, der Herausgeber von «L’Aurore», sei der eigentliche Held der Affäre. Den täglichen Meldungen dort sei es zu verdanken, dass die Gerechtigkeit für Dreyfus in der Folge wiederhergestellt wurde.
Der Brief Zolas leiht dem Film seinen Titel, bleibt in ihm aber aus gutem Grund nur eine Episode neben vielen anderen. Polanski und Robert Harris, auf dessen Roman «An Officer and a Spy» der Film beruht, erzählen diese Geschichte vielmehr als kompakten Kriminalfilm und Justizdrama. Zu grossen Teilen ein Kammerspiel, dunkle, nach der Mode der Zeit schön üppig ausgestattete Interieurs, die schweren Vorhänge meist zugezogen, der historischen Sorgfalt wegen wird viel geraucht, man redet tête-à-tête oder in kleinen Grüppchen. Ein Sortiment an Schnurrbärten, Tonfällen, Mienenspiel. Man biegt sich oft über Briefe, wühlt in Akten und Zettelchen. Wenig öffentlicher Diskurs, viel Diskretion. Genregemäss und im besten Sinn klassisch wird J’accuse als elegante Abfolge von logischen Schritten inszeniert. Eine schlanke Kette aus Intrigen und Gegenmassnahmen, pointierter Rede und Gegenrede, Erwartung und Bestätigung. Aufgeräumt und reduziert, ausführlich, aber nicht redundant.

Die Hauptfigur von J’accuse ist weder Dreyfus noch Clemenceau, sondern Marie-Georges Picquart, Ausbilder in der Militärakademie, smart, eloquent und vorausschauend. Kurz nach dem besagten Prozess, bei dem er ohne sein Wissen assistierte, wird er zum Oberst und Leiter einer Abteilung im Geheimdienst befördert. Die neue Dienststelle – verstaubt, nach Abwasser stinkend, mit klemmenden Fenstern und intransparenter Arbeitsteilung – bietet einen spannenden Überblick über den state of the art des Spionagewerkzeugs damaliger Zeit.
Der unsauber eingefädelten Intrige ist es geschuldet, dass Picquart bald einen Verdacht hegt: Dreyfus ist unschuldig, der echte Spion bleibt auf freiem Fuss. Er folgt der Spur, verbeisst sich in den Fall, stösst auf massive Vertuschungsversuche und bleibt selbst dann, als ihm Gefängnis und Entlassung drohen, cool und beherrscht. Was für ein Mensch ist dieser Picquart? Ein Idealist? Ein guter Bürger? Ein Nerd? Oberst Picquart – sanftes, einnehmend liebreizendes Äusseres von Dujardin – folgt nur seinem Gewissen. Er bleibt dabei stets im System, gegen das er aufbegehrt.

Im System zu bleiben, das lohnt sich für Picquart und auch für Dreyfus, der nach seiner Rehabilitierung weiter bei der Armee dient. Das macht auch J’accuse zu einem interessanten Film: Dank seiner Kammerspielartigkeit bleibt der Grundkonflikt schärfer, konzentrierter. Picquart und Dreyfus, ein Chauvinist und ein Angehöriger der verhassten Minderheit, sind als so konsequente Figuren gezeichnet, wie man sie im Kino selten sieht. Die dramaturgische Konvention verlangt meist eine Entwicklung, schickt Figuren gern auf eine innere Reise. Doch genau das, sich wandeln, das tun die beiden nicht.
Die Pointe des Films, sein Kommentar zur Kontinuität von Geschichte und zu den Entwicklungen der jüngster Zeit liegen genau darin: Die Regierungen und die Gesetze unterliegen Veränderungen, bestimmte Dinge sind im Offenen so nicht mehr möglich, aber Menschen bleiben oft dieselben. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Polanski selbst? Nach etwas Abwägung fühlt es sich richtig an, den Menschen von dem Werk zu trennen, zumal – wie es leider viel zu oft vergessen wird – jeder Film stets als Produkt kollektiver Arbeit entsteht.
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