La vérité

Hirokazu Koreeda
Der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda drehte zum ersten Mal in Frankreich. Obwohl die Absichten des Drehbuchs in La vérité allzu oft durchschimmern, vermag Catherine Deneuve den Film zusammenzuhalten.
Hirokazu Koreeda gehört zur seltenen Sorte von Filmemachern, mit denen man statt Narration oder Ästhetik eine bestimmte Stimmung verbindet: Durch sein Werk weht eine Brise wärmender Sanftmut. Diese transportiert auch sein erster nichtjapanischer Film La vérité.
Bereits 2011 hatte Juliette Binoche Koreeda eingeladen, in Frankreich zu drehen. Nach dem Gewinn der Goldenen Palme in Cannes für Shoplifters (2018) wagte er den Schritt. Für einen Filmemacher, dessen Werk viel mit Komfortzonen zu tun hat, ist das Verlassen der selbigen eine interessante Entscheidung.
Letztlich überbrückt er die kulturellen Unterschiede aber souverän und unspektakulär, weil sein Film für ihn gewohnte, tragikomische Familiendynamiken zeigt und diese geschickt mit einer Hommage ans französische Kino verknüpft. Der Herzschlag des Films ist nicht Binoche, sondern Catherine Deneuve als gealterte Schauspieldiva Fabienne Dangeville. In hilfloser Eitelkeit hangelt sie sich von Szene zu Szene, um ihr Bild zu wahren, während ihr Leben davonfliegt.
Deneuve beherrscht diese durchaus mit ihrer Persona verknüpften Figur in allen Facetten. Von komischen Momenten, in denen sie wiederholt vergisst, ob eine ihrer ehemaligen Kolleginnen tot oder lebendig ist, über egoistische Manierismen bis zu flüchtigen Liebenswürdigkeiten und Bedürftigkeiten entfaltet sie das komplexe Bild einer Frau, an der die Kamera und auch sämtliche anderen Figuren kleben. Eine dieser Nebenfiguren ist Binoche, die ihre unter der Mutter leidende Tochter spielt. Mit ihrem Ehemann Hank und ihrer Tochter besucht sie Fabienne, die gerade ein Buch mit dem Titel «La vérité» herausgegeben hat.
Die titelgebende Autobiografie ist der Wink mit dem Zaunpfahl, der in mal amüsanten und mal tragischen Szenen verhandelt wird. Auf der einen Seite offenbart Koreeda die Schauspielerin als chronische Lügnerin, die nur an der Leinwand interessiert ist: Die Wahrheit bedeutet hier eben weniger als die filmische Muse.
Auf der anderen Seite erscheint Koreedas Film genau in solchen Lügen eine tiefere Wahrheit zu erkennen. Man denkt unweigerlich an Brian De Palmas Umdrehung von Jean-Luc Godards Zitat: «Das Kino ist eine Lüge 24 Mal in der Sekunde». Die stärksten Szenen finden in diesem Vakuum zwischen Hinwendung zum Kino und Abkehr vom Leben statt.

Allerdings lebt die Schauspielerin gar nicht in einem Vakuum. Ihre Tochter leidet unter der Egozentrik der Mutter, ihr Haushälter will nicht mehr mitspielen, und selbst die Enkelin gibt ihr als Einzige keinen Gutenachtkuss. Ohne in die Falle einer allzu rührseligen Geschichte von der Erkenntnis im hohen Alter zu tappen, wirken viele Szenen doch wie frisch aus der Schauspielschule.
Psychologie und Konflikte liegen derart offen, dass die Figuren wie reine Träger von dramaturgischen Konflikten erscheinen. Zeichnen sich viele Filme von Koreeda gerade durch eine fehlende Vorhersehbarkeit aus, hat man das Gefühl, in La vérité das Drehbuch mitlesen zu können. Dadurch entsteht eine recht plumpe Sentimentalität. Man fühlt sehr stark, dass man mitfühlen soll: Die Konflikte fransen in ein bedeutungsloses Nichts aus.
Vor allem, weil es trotz vieler sogenannter grosser Schauspieler_innen kaum Szenen mit bedeutsamen Interaktionen zwischen den Figuren gibt: Ethan Hawkes Hank etwa existiert nur, damit jene von Binoche einen weiteren Konflikt hat. Und jene von Binoche existiert nur für Deneuve. Man gewinnt den Eindruck, dass sämtliche Charaktere nur der genaueren und klischeehafteren Zeichnung einer anderen Figur dienen.

Gerettet wird der Film von Deneuve. Obwohl die Figur des alternden Filmstars nun wahrlich nicht aussergewöhnlich ist. Immer bereit für ihre Nahaufnahme, in bisweilen verbitterter Erinnerung an die goldenen Zeiten des Kinos verharrend, erzählt sie die Kinogeschichte hindurch von der leeren Egozentrik, der Unerbittlichkeit der Unterhaltungsindustrie.
Deneuve ringt dieser Figur einen interessanten und nachhallenden Aspekt ab. Fabienne nämlich ist kein passives Opfer dieser Mechanismen, sie kann selbst entscheiden, welche Rolle(n) sie im Alter spielt. Sie ist sich bewusst, dass sie sich an ein Bild klammert. Während des Abspanns geht Fabienne mit ihrem Hund spazieren. Sie wirkt gelangweilt, ist aufgetakelt, lässt sich etwas gestresst vom Vierbeiner über den Gehsteig ziehen. Es ist ein unbeholfener Versuch der Normalität und ein Beleg dafür, dass manche Filme ihren ganzen Inhalt in den Abspann legen.
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