L’île aux oiseaux

Maya Kosa, Sergio da Costa
In ihrem feinfühligen Film über die Arbeit in einer Vogelrettungsstation machen Maya Kosa und Sergio da Costa eine aus dem Gleichgewicht gefallene Welt sichtbar, in der Vögel wie Menschen neu lernen müssen, zu überleben.
Eine Heckenbraunelle mit dichtem Federkleid balanciert an der Spitze eines dünnen Astes. Es wackelt unter ihren Zehen. Auf das Ästchen wurde eine Apfelscheibe gespiesst. Der Vogel nähert sich vorsichtig und mit erstaunlichem Geschick, berührt das Obst mit dem Schnabel, zieht sich zurück und kehrt dann doch wieder, um in das Fruchtfleisch zu picken. Dass Zerbrechlichkeit wohl kaum greifbarer wird, als in den Bildern verletzter Vögel, nutzt das Regieduo Maya Kosa und Sergio da Costa in ihrem zweiten Spielfilm, L’île aux oiseaux, für eine zärtliche Studie der Fragilität des Lebens.
Der Film wurde im Centre Ornithologique de Réadaptation in der Genfer Gemeinde Genthod gedreht. Dort kümmert man sich um verletzte oder traumatisierte Vögel und bereitet diese bestenfalls wieder für ein Leben in der freien Natur vor. An diesen Ort verschlägt es auch Antonin, der nach langer Krankheit in somnambulen Zuständen verharrt und als Mitarbeiter angelernt wird. Seine Aufgabe wird es sein, Ratten zu züchten und zu töten, um genug Futter für die Vögel zu haben.

Die Filmschaffenden verheimlichen keine Sekunde, dass dieser junge Mann mit seinem starren Blick ebenso pflegebedürftig ist wie die Vögel. Mehrfach wird betont, dass die Tiere mit der Aussenwelt kämpfen. Ihre Erkrankungen sind Folge sich verändernder Lebensbedingungen. Auch Antonin scheint nicht gemacht für das Leben. Ab und an schliesst er die Augen, schläft ein und entflieht allem. Die Vogelrettungsstation wird zu einem Ort der Geborgenheit. Die Wunden werden geheilt, das Leben nochmals neu erlernt.

Wie der Vogel auf dem Ast balanciert auch der Film zwischen verschiedenen Polen des Kinos. So wechselt sich eine an Robert Bresson erinnernde, minimalistische Strenge ab mit einer gewissen Verspieltheit auf der Bildebene, etwa wenn durch eine Wärmebildkamera betrachtet wird, wie die Wärme einer getöteten Ratte aus deren Körper entweicht. Eine malerische Perfektion in den im Format 4:3 gedrehten Bildern trifft zudem auf die unberechenbare Beweglichkeit der Vögel. Ähnlich arbeiten die Filmemacher_innen mit ihrem dokumentarischen Interesse für das Geschehen rund um die Vögel im Verhältnis zur fiktionalen, metaphorischen Ebene rund um Antonin.

Explizite Aufnahmen von Operationen an den liebevoll gefilmten Tieren wechseln sich ab mit einer Voiceover, in der Antonin tagebuchartig von seinem Weg zurück ins Leben berichtet. Am deutlichsten erarbeitet der Film eine Analogie zwischen dem starren Mann und einer auf einem Auge erblindeten Eule. In Schockstarre wird diese von einer Pflegerin gehalten, um sich nach und nach wieder an das Licht, die Bäume, die Nahrung und schliesslich die Freiheit zu gewöhnen. Als Antonin selbst die Eule in die Dämmerung entlässt, geht er ihr nach und verschwindet im hohen Gras.

Am eindrücklichsten balanciert L’île aux oiseaux allerdings zwischen dem Innen und Aussen. In einer beiläufigen Einstellung sieht man, wie ein Vogel zurück in den Käfig spaziert, weil er der Welt draussen nicht gewachsen ist. Dieses Motiv, das an Thomas Manns «Der Zauberberg» erinnert, macht in der Isolation der Vogelstation spürbar, was jenseits von ihr schiefläuft. Die Natur verändert sich; sich an die neuen, bisweilen brutalen Bedingungen anzupassen, gelingt nicht jedem Tier. Manche sterben, andere bleiben bewegungslos in den Käfigen.
Worauf auch immer man balanciert, man benötigt Gleichgewicht. Dass etwas zwischen der Erde und ihrer Bewohner_innen aus jenem Gleichgewicht geraten ist, wird in den stärksten Szenen dieser bemerkenswerten Arbeit sichtbar.
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