Walden

Daniel Zimmermann
Dreizehn 360°-Schwenks umfasst Aktions- und Filmkünstler Daniel Zimmermanns ambitioniertes Projekt Walden. In kontemplativen Schwenkbewegungen ruft der Film nicht nur Fragen zum Rohstofffluss, sondern auch zum dokumentarisch-filmischen Blick auf den Plan.
Es ist ruhig im Wald. Die Kamera schwenkt von einer fixen Position aus langsam und gleichmässig im Kreis. Das Gesehene verschwindet so nach und nach links von der Leinwand, dafür eröffnen sich rechts neue Ansichten, die den Off-Screen-Bereich erobern. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, und plötzlich scheint gar Handfestes zu passieren: Ein Mensch, ein Waldarbeiter, begibt sich zu einem Traktor und wirft den Motor an. Doch auch er verschwindet durch den Schwenk wieder aus dem Bild, wird wenig später aber von einem weiteren Waldarbeiter mit einer Motorsäge abgelöst, und es ist endgültig aus mit der schönen Stille, als der sich daran macht, einen Baum zu fällen. Der fallende Baum wiederum holt die weiterziehende Kamera ein, als er am Ende der Schwenkbewegung ins Bild kracht. Damit ist eine 360°-Bewegung vollbracht, die etwa neun Minuten gedauert hat.

Walden des Schweizer Aktions- und Filmkünstlers Daniel Zimmermann begnügt sich nicht mit diesem einen 360°-Schwenk, sondern lässt ihm noch zwölf weitere folgen. Jede dieser dreizehn Bewegungspanoramen lebt von einer eigenen, inneren Dramaturgie, die sich aus dem mechanischen, immer gleichbleibenden Schwenktempo entwickelt. Diese strikte Form ist ebenso immersiv wie künstlich, repetitiv und doch variiert, sie zwingt das Publikum zu einer aktiven Seherfahrung und zu gedanklicher Partizipation.
Doch neben dieser inneren gibt es noch eine äussere Dramaturgie, ja sogar eine Geschichte, welche die dreizehn Panoramen verbindet und das Publikum zu Überlegungen anregt: Den gefällten Baum finden wir schon in der zweiten Einstellung als einen Stapel von Holzlatten im Bahnhof Admont (Österreich) wieder, die Pflanze wurde zur Ware, die nun per Bahn, Lastwagen, Schiff, Boot und am Schluss von Menschen geschultert eine Reise über die halbe Erdkugel antritt. Stationen sind Autobahnen, Grenzübergänge, Häfen, immer wieder Häfen, dann die Flusswege des Amazonas hinauf, bis die Holzlatten im brasilianischen Urwald verschwinden.

Wer sich fragen will, was das Ganze zu bedeuten hat, der wird eine Antwort finden. Jede_r eine eigene. Wohl niemand eine abschliessende. Die Reise hat etwas Wahnwitziges, Provozierendes, denn das Holz wird dorthin transportiert, wo es eigentlich nicht benötigt wird, von Wald zu Wald, und in umgekehrter Richtung des kolonialen Rohstoffflusses. Im Präsentationstext des Films ist zu lesen, dass der Baum in einem österreichischen Klosterwald gefällt wurde. Die «missionarische» Reise nach Brasilien könnte man dann im Namen eines Schiffes des Amazonas wiederfinden, das «Don Bosco» heisst. Verladen wird der Holzstapel jedoch auf die «Indigena», und in einem programmatischen (vielleicht auch problematischen?) Tableau vivant finden wir ein Dutzend Einheimische des Amazonasgebietes schön nebeneinander aufgereiht. Eine Choreografie, die koloniale Machtverhältnisse auf jeden Fall thematisiert. Und nicht zuletzt bezieht sich Walden auf das gleichnamige zivilisationskritische Buch von H. D. Thoreau, in dem der Autor beschreibt, wie er sich mehr als zwei Jahre in einer abgeschiedenen Blockhütte aus der Gesellschaft zurückzog.

Früher oder später beginnt man sich zu fragen, welchen logistischen Aufwand das Filmteam betreiben musste, um an solche Bilder zu kommen: Wie oft musste man die einzelnen Sequenzen drehen? Bald merkt man auch, dass nicht alle Schwenks wirklich die vollen 360° auskosten, sie sind meistens etwas kürzer. Doch vor allem wird klar: Obwohl der Film an vielen Festivals als Dokumentarfilm lief, sind die manchmal geradezu perfekt choreografierten Bewegungsabläufe komplett durchinszeniert. So etwa, wenn ein Lastwagen oder dann ein Boot mit dem Holzstapel ins Bild fährt, dann wieder daraus verschwindet – oder von irgendetwas lange Zeit verdeckt wird –, um Minuten später wieder geschmeidig von der Kameraperformance eingeholt zu werden. Auch das Versprechen mancher Promotor_innen, mit der 360°-Kameratechnik den ultimativen Realitätseindruck für zukünftige Dokumentarfilme gefunden zu haben, wird durch Walden zumindest teilweise entkräftet. Der filmisch konstruierte Blick ist eine Raumerschliessung, die nicht der menschlichen Erfahrung entspricht. Dieser Essayfilm ist viel eher als panoptische Raumkonstruktion zu fassen, nicht zuletzt als Pendant zu den im 19. Jahrhundert so populären Rundbildern (wie etwa dem Bourbaki-Panorama in Luzern), die ebenfalls ganz offenkundig eine Inszenierung sind.
Regie: Daniel Zimmermann; Kamera: Gerald Kerkletz; Schnitt: Bernhard Braunstein; Sounddesign: Karoline Heflin; Produktion: Aline Schmid, Beauvoir Films, SRF Schweizer Radio und Fernsehen, Schweiz, Österreich 2018. 106 Min. Verleih CH: Beauvoir Films.
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