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Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich

Schweizer Künstler*innen von Rang, denen noch kein Dokumentarfilm gewidmet wurde, sind mittlerweile rar. Dass es Harald Naegeli so spät trifft, ist eher überraschend. Nathalie David nutzt die wohl letzte Gelegenheit.

Text: Till Brockmann / 03. Nov. 2021

Im Laufe der Siebzigerjahre nahm Naegeli an Zürcher Jugendprotesten teil, die später in den Krawallen der Achtzigerjahre mündeten. Wie andere sprayte er politische Parolen und freche Sprüche auf Banken und weitere Gebäude des Establishments. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass er ja eigentlich viel lieber zeichnet: Statt Worte krochen fortan einfache, aber lebendige Figuren aus der Spraydose. Ein folgenschwerer Einfall für ihn, Zürich und die Kunst.

Falls es Aufgabe der Kunst sei, nicht nur Schönes zu schaffen, sondern auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft zu werfen, eine Auseinandersetzung mit ihr zu suchen, falls es das Ziel sei, möglichst viele Menschen zu erreichen und sie zu sensibilisieren, dann ist Naegelis Werk wohl eine der grössten Erfolgsgeschichten der Schweizer Kunstszene. «Der Sprayer von Zürich» beschäftigt bis heute nicht nur Kunstritiker*innen und -Liebhaber*innen, sondern auch die Polizei, den Justizapparat, der sogar einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erliess, und Politiker*innen.

Über Naegeli wurden unzählige journalistische Artikel und Berichte verfasst, sogar Lieder komponiert. Er wurde weit über Kantons- und Landesgrenzen bekannt, besonders in Deutschland, wo er viele Jahre im Exil lebte und ebenfalls sprayte. Und nicht nur erzürnte Liegenschaftsbesitzer haben eine klare Meinung zum Sprayer, auch Nichtbetroffene fühlen sich betroffen und äussern sich: Wand- und Nestbeschmutzer, Sachbeschädiger, egozentrischer Provokateur, Rebell, Terrorist, Sauhund wird er genannt. Andere sehen ihn hingegen als prominenten Street-Artist, Graffiti-Ikone, als gewieften, kompromisslosen, hinterfragenden Künstler, als schalkhaften und klugen Gesellschaftskritiker und Denker.

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All das arbeitet der Film von Regisseurin Nathalie David, die auf eine Idee und langjährige Vorarbeiten des Filmemachers Peter Spoerri zurückgreifen konnte, ausführlich auf. Wer dabei am meisten über Naegeli spricht, ist ab der ersten Sekunde an klar: es ist Naegeli selbst. Der Film ist über weite Strecken eine Gesprächseinladung an den Künstler, heftet sich unablässig an seine Worte, Gedanken und Selbstdeutungen, ohne viel anderes entlarven oder hinzufügen zu wollen.

Neben Interviewsituationen und vielen Archivaufnahmen werden auch Auszüge aus den Nachrichten gelesen, die «Harry Wolke» ­ so das selbstgewählte Pseudonym des Künstlers – an seine «Freunde der Wolke» seit 2013 in uregelmässigen Abständen schickt. Darin werden das künstlerische Credo und der anvisierte Befreiungsschlag durch eine politisch-philosophische Utopie weiter konkretisiert. Auch das Presseheft zum Film gibt unumwunden zu: «Der Film ist Naegelis Testament und eine Hommage an den Utopisten».

Testament auch, weil der angeschlagene, von einem unheilbaren Krebsleiden gezeichnete Künstler, dem Tode nahe ist. Das schlägt sich auch in seinen letzten nächtlichen Aktionen nieder: Während des Corona-Lockdowns sprayte er an mehrere prominente Zürcher Wände bizarre Skelettfiguren, die sich so zu einem persönlichen und gesellschaftlichem Totentanz vereinen.

Einige davon sind noch erhalten, viele aber bereits wieder abgekratzt, übermalt, verschwunden. Auch frühere Werke sind in Zürich nur noch spärlich zu finden, obwohl einige der anfangs aufgebrachten Eigentümer bei steigendem internationalen Bekanntheitsgrad Naegelis damit anfingen, seine «Schmierereien» mit einer Schutzschicht oder gar Plexiglas zu konservieren. Der Flüchtigkeit von Naegelis Oeuvre entgegen wirkt zum Glück auch ein gut fotografisch erfasstes, sauber dokumentiertes und nummeriertes Werkregister: Der Dank geht an die Stadtpolizei Zürich.

 

START 04.11.2021 REGIE, SCHNITT Nathalie David KAMERA Adrian Stähli, Nathalie David MUSIK Andrina Bollinger, Sophie Hunger PRODUZENT Peter Spoerri, Nathalie David, CH 2021 DAUER 97 Min. VERLEIH Filmcoopi

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2021 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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