Filmbulletin Print Logo

Kurz belichtet

Bücher, Blu-rays, Channels et al.
Wiseman Buch

Frederik Wiseman – Das Schauspiel der Gesellschaft

Buch

Er gilt als Filmemacher, der sich immer wieder mit dem Funktionieren von Institutionen auseinandergesetzt hat: geduldig die Abläufe beobachtend in einer psychiatrischen Klinik, beim Militär, in einem Kunstmuseum oder in der New Yorker Public Library. 47 Filme, der längste 358 Minuten lang, hat Frederick Wiseman seit 1967 realisiert. Die jüngste Arbeit des mittlerweile 94jährigen amerikanischen Dokumentaristen, Menus Plaisirs, ist am 1. Februar 2024 im Filmpodium Zürich zu sehen. Dessen stellvertretender Leiter Hannes Brühwiler hat jetzt ein Buch über ihn herausgegeben, basierend auf einer Retrospektive, die er 2022 für das Berliner Kino Arsenal zusammenstellte.

Vierzehn Autor:innen sind in dem Band vertreten, darunter auch einige Filmregisseure wie Mischa Hedinger oder Henner Winckler. Von Wiseman selber gibt es zwei ältere Texte, dazu das Publikumsgespräch aus dem Arsenal, in dem er sowohl Auskunft über die Zusammenarbeit mit seinen Kameraleuten als auch generell über seine Arbeitsweise gibt. Während der Herausgeber mit seiner kommentierten Filmografie einen Überblick gibt, richten die Essays den Blick eher auf Details, etwa die Anfänge der Filme, die «Inszenierung der Worte» oder die Funktion von «Brückenbildern» in den Filmen.

Nicht wenige der Texte sind persönlich gehalten und reflektieren das eigene Verhältnis zu den Filmen Wisemans. Gerd Kroske etwa war schockiert von der «Härte und Brutalität», die er beim ersten Sehen von dessen Debütfilm Titicut Follies wahrnahm. Manche Texte widmen sich einzelnen Filmen oder mehreren, die sich zueinander gruppieren lassen (etwa Wisemans «Stadtfilme»). Auch hier liegt das Augenmerk auf Details der Gestaltung, was bei Wiseman vor allem Montage bedeutet. Er selber spricht vom «Material, das keine Form hat ausser der, die ich ihm auferlege» und betont auch, dass der fertige Film «nicht chronologisch aufgebaut (ist). Die Struktur ist völlig fiktiv.» Das zwingt das Publikum, die eigenen Vorstellungen von dem, was einen Dokumentarfilm ausmacht, in Frage zu stellen. Generell ist dies ein Buch, das eher Fragen stellt als Antworten gibt. Was ja nie verkehrt ist. Frank Arnold

Titel

Frederick Wiseman. Das Schauspiel der Gesellschaft.

Autor:in

Hannes Brühwiler (Hg.)

Verlag

Bertz+Fischer, 185 Seiten.

Preis

CHF 44 / EUR 29

Cinemaluna mehr film 2023 3

Filmisches Vermächtnis

DVD-Box

Die Anfänge des 1949 in Frauenfeld geborenen Filmregisseurs und Fotografen Friedrich Kappeler fielen in die Zeit des «Neuen Schweizer Films», doch im Gegensatz zu zahlreichen Deutschschweizer Filmschaffenden aus der 68er-Generation baute Kappeler nie auf soziologisch untermauerte Gesellschaftskritik. Stets stand in seinen Filmen die persönliche Begegnung im Zentrum. Dabei gerieten zu Beginn seiner Laufbahn, dem Zeitgeist geschuldet, auch mehrmals Aussenseiter ins Bild. Im unvergessenen, nun erstmals offiziell veröffentlichten mittellangen Dokumentarfilm Müde kehrt ein Wanderer zurück (1975) ist es Kappelers langjähriger Nachbar, der nach zahlreichen Schicksalsschlägen in ein Heim in seinem Bürgerort abgeschoben wird, den er kaum kennt. Kappeler begegnet dem alten Mann mit Respekt und Empathie, auch in den zahlreichen späteren Portraitfilmen hat er nie jemanden instrumentalisiert oder blossgestellt.

Ein Merkmal von Kappelers Filmen sind die sorgfältigen Bildkompositionen, «poetische Momente voller Wärme und Witz», wie es im reich illustrierten Booklet der soeben erschienenen DVD-Box heisst. Sodann verdienen es die Schauplätze und Drehorte, speziell erwähnt zu werden: Es gibt im Schweizer Filmschaffen wohl kein anderes Werk, das die Kleinstadt, das Dorf und den Raum dazwischen so liebevoll, und doch fern jeder Heimattümelei, gezeichnet hat.

Die Box umfasst auf sieben DVDs sämtliche zwölf Filme Kappelers von den frühesten Studien, gedreht während der Ausbildung zum Fotografen an der Kunstgewerbeschule Zürich (heute ZHdK), bis zu Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot (2007). Sämtliche Titel wurden neu editiert (und teilweise mit zuschaltbaren Untertiteln versehen), restauriert und in digital in 2K gemastered. Dabei wurde, wann immer möglich, auf Originalnegative zurückgegriffen. Die Edition überzeugt auch durch ihre Aufmachung, die Kartonhüllen zu den einzelnen DVDs bieten informative Klappentexte und warten mit einer Fülle von Standfotos und Aufnahmen vom Dreh auf.

Friedrich Kappeler erlebte die Fertigstellung seiner Werkausgabe nicht mehr, er verstarb im Herbst 2022. Die DVD-Box ist nun zu seinem Vermächtnis geworden, und dank der mustergültigen Restauration leuchten seine Filme nun heller denn je. Felix Aeppli

Titel

Friedrich Kappeler Filme 1972–2007.

Redaktion

Christof Stillhard

Weitere Infos

Erschienen bei Praesens-Film AG Zürich.

Preis

CHF 120

Ode ans italienische Bahnhofskino

Ode ans italienische «Bahnhofskino»

Buch

Zugegeben, der häufig etwas flapsige Stil des Autors ist gewöhnungsbedürftig (führt aber auch immer wieder zu pointierten Charakterisierungen). Mit seinem mittlerweile fünften Hardcoverbuch ist der Berliner Autor Christian Keßler, nach dem vorangegangenen zum Film Noir, zurückgekehrt zum eher verpönten «Bahnhofskino», das er 2011 bereits mit einer Veröffentlichung zum «amerikanischen Hardcorefilm von 1970 bis 1985» gewürdigt hatte, zurückgekehrt auch zu einer langjährigen Vorliebe, entstanden in seinen «frühen Studienjahren».

Wie immer chronologisch angeordnet und exzellent bebildert (fast ausschliesslich mit tollen Plakatmotiven), geht es diesmal um italienische Kriminalfilme. 219 davon werden kenntnisreich (auch im Hinblick auf verschiedene Fassungen) und zugeneigt vorgestellt.

Dabei thematisiert der Autor auch nationale Eigenheiten wie die Rolle der Mafia oder den Einfluss der «bleiernen» Jahre; Filme, die seinerzeit von der Kritik als reaktionär verdammt wurden, vermag er in ihren Ambivalenzen darzustellen. Neben Arbeiten anerkannter Regisseure wie Francesco Rosi und Damiano Damiani erfahren die Leser:innen auch fast alles über Enzo G. Castellari, Umberto Lenzi und Antonio Margheriti, eher bekannt für ihre parallel entstandenen Horrorfilme.

Dass es Sinn macht, Gangsterfilme und «Poliziesco» in einem Band zu behandeln, zeigen die Filme selber, mit Protagonisten, die aus den untersten Schichten des verarmten Südens stammen und eine Aufstiegschance nur als Gangster sehen, oder aber Polizisten, die in puncto Gewaltanwendung so wenig Skrupel haben wie die Gangster, denen sie das Handwerk legen wollen: Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind fliessend, auch ein Darsteller wie Tomas Milian brilliert auf beiden Seiten des Gesetzes. Frank Arnold

Titel

Bleigewitter über Cinecittà. Gangster und Polizisten im italienischen Kino von 1960–1984.

Autor:in

Christian Keßler

Verlag

Verlag Martin Schmitz, 355 Seiten.

Preis

CHF 50 / EUR 36

Ridley Scott: Workaholic, Mogul und Auteur?

Buch

Während sein 17 Monate älterer Landsmann Ken Loach mit seinem jüngsten Film seinen Abschied vom Filmemachen ankündigte, hat Ridley Scott mit 86 Jahren gleich mehrere Filme in Arbeit bzw. Vorbereitung. Neben 30 abendfüllenden Regiearbeiten zeichnet er als Produzent zudem für gut 150 Werke, Filme wie Serien, verantwortlich – ein «Workaholic», ein «Mogul», bekannt für «ausdrucksstarke Visualität» und «Akribie».

Die Kritiken zu seinem jüngsten Epos Napoleon waren geteilt, aber dass er mit Alien und Blade Runner in nur vier Jahren gleich zwei Klassiker des Science-Fiction-Films (mit überragendem Einfluss) geschaffen hat, ist unbestritten. Auch bei Scott wird wieder einmal die Frage aufgeworfen: Auteur oder nicht?

Eine komplexere Antwort gibt dieser Sammelband mit sieben Aufsätzen, die sowohl Übergreifendes («verschleierte Identitäten») als auch Einzelanalysen (zu Thelma & Louise und The Martian) liefern. Besonders aufschlussreich: Georg Seeßlen über Scotts Verhältnis zum Genre-Kino; auch über seine Tätigkeit als Regisseur von Werbespots erfährt man Näheres. Ob sich Scott und Loach 1964/65, als sie beide Episoden der BBC-Polizeiserie Z Cars inszenierten, wohl mal über den Weg gelaufen sind? Frank Arnold

Titel

Ridley Scott (Film-Konzepte 67)

Autor:in

Jörg Helbig

Verlag

edition text+kritik, 111 Seiten.

Preis

CHF 31 / EUR 20

Last Contact

Last Contact

Blu-ray

Ein dystopisches Kammerspiel: 2063 ist die Erde weitgehend überflutet, die zwei verbliebenen Kontinente stehen im kriegerischen Konflikt. Auf einer Beobachtungsplattform am Rand der Welt wartet die Besatzung, drei Männer und eine Frau, nach zwei Jahren auf ihre Ablösung. Doch die ist seit drei Monaten überfällig, die Stimmung gereizt, während endlosem Warten flammen immer wieder Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten auf. Man darf sich durchaus an das Warten auf den unsichtbar bleibenden Feind in Dino Buzattis (auch verfilmtem) Roman «Die Tartarenwüste» erinnert fühlen. Als sich an Bord eines ankommenden Schiffs keine lebende Seele findet, liegen die Nerven blank. Der Kommandeur (Thomas Kretschmann) lässt schon mal die Atombombe scharf machen … Ein sehr physischer Film mit eindrucksvollen Scope-Kompositionen und bemerkenswertem Sounddesign. Frank Arnold

Titel

The Last Sentinel (EST/DE/GB 2023)

Regie

Tanel Toom

Weitere Infos

112 Minuten, erschienen bei weltkino (Blu-ray, DVD)

Die Kommentatoren des Post Cinema jpg

Offenes Kino

Buch

Die Sorge, dass der Cinephilie und auch der Kinotheorie mit Digitalisierung und Saalschliessungen ihre Orte und ihr Gegenstand verloren gehen könnten, ist während und nach der Pandemie nicht kleiner geworden. In seinem neuen Buch über zwei «Kommentatoren des Post-Cinema» (teilweise) avant la lettre, Serge Daney und Jean-Luc Godard, begegnet der (auch für dieses Magazin schreibende) Kritiker Philipp Stadelmaier dieser berechtigten Sorge nicht mit Begriffen wie Relokalisierung oder Screen Studies, aber auch nicht mit Indifferenz und schon gar nicht mit einem Abgesang, sondern mit einer empathischen Bewegung zurück nach vorn: Der Kritiker Daney und der Kritiker-Regisseur Godard werden in seinen genauen Lektüren zu Advokaten eines Kinobegriffs, der reflexiver, flexibler oder vielmehr offener ist, als es jede Rede vom Ende impliziert.

Stadelmaiers Buch ist eigentlich der Versuch, einen Satz von Gilles Deleuze konsequent bis zum Ende zu verfolgen und auszulegen: was das heissen könnte, Daneys – und Godards – Kritik als «Wacht über ein Supplément», einen Überschuss, eine Unausdeutbarkeit des Kinos zu begreifen.

Die Theorietraditionen, die Stadelmaier damit aufruft und in die er Godard und Daney letztlich auch stellt, wenn auch im Bewusstsein, dass sie darin nicht aufgehen – vor allem Michel Foucault, Maurice Blanchot, Jacques Derrida und ihre Begriffe –, sind zwar nicht verschüttet, aber auch nicht mehr gerade de rigueur im Film- und Medientheoriediskurs der Gegenwart.

Stadelmaier erweist sich damit nicht zuletzt auch selbst als ein Wächter, der französische Theorielinien im Kinodenken noch einmal verfolgt und dick markiert, als selbst nicht so geheimer Agent einer frühromantisch inspirierten Philologie des Films und einer Apotheose von Kritik, die letztlich eben doch kein Supplement oder gar Appendix des Kinos ist, sondern selbst Teil desselben. Daniel Eschkötter

Titel

Die Kommentatoren des Post-Cinema. Serge Daney, Jean-Luc Godard und die Rephilologisierung des Kinos im digitalen Zeitalter.

Autor:in

Philipp Stadelmaier

Verlag

Bielefeld: transcript Verlag, 288 Seiten.

Preis

CHF 68 / EUR 50. Open access bei transcript-verlag.de

North by Northwest

Filmemacher:innen über Hitchcock

Buch

Beim Untertitel dieses Buches vermutet der oder die mit Hitchcock vertraute Leser:in womöglich eher etwas über die Einflüsse, die Hitchcock aus Deutschland aufgenommen hat (er arbeitete in den Zwanzigerjahren in Münchner Filmateliers). Stattdessen erwarten uns «Gesprächsessays» mit sieben deutschen Filmemacher:innen. Christian Petzold, Dominik Graf, Andreas Kleinert, Rainer Kaufmann, Hermine Huntgeburth, Sophie Linnenbaum und Nana Neul geben Antworten auf die Fragen des Autors – wie Josef Schnelles vorangegangene Bücher über Volker Schlöndorff und Werner Herzog basiert auch dieses auf einer Langen Nacht im Radio.

Ausgangspunkt sind jeweils einzelne, ikonische Szenen, natürlich die Duschszene aus Psycho oder der Flugzeugangriff auf Cary Grant in North by Northwest. Die Szenen werden nicht nur durch Beschreibung, sondern auch durch zahlreiche Screenshots ins Gedächtnis gerufen, mithilfe abgedruckter QR-Codes kann man sie auf mobilen Geräten zudem als Bewegtbilder sehen. Zwischen Erinnerungen an das erste Sehen der Filme und der präzisen analytischen Einordnung (besonders bei Graf und Petzold) liegen die Aussagen. Vor allem geht es darum, wie Hitchcocks Werk die eigene Arbeit beeinflusst hat. In der Vielfalt der Antworten darauf liegt das Anregende dieser Lektüre. Frank Arnold

Titel

Der unsichtbare Dritte. Hitchcock und der deutsche Film.

Autor:in

Josef Schnelle

Verlag

Schüren, 181 Seiten.

Preis

CHF 30 / EUR 22

Zwischen Folk-Spuk und Hai-Superlative

Buch

Sein letzter Film, Meg 2, dürfte in diesem Sommer als kalkulierter Blockbuster viele Fans enttäuscht haben, aber der Brite Ben Wheatley bleibt einer der originellsten derzeitigen Filmemacher:innen mit seinem «steten Spagat zwischen Arthouse-Horror und Mainstream-Kino», wie der Herausgeber Sascha Seiler seine einleitenden Bemerkungen überschreibt.

Acht Autor:innen setzen sich in ihren Texten mit den Filmen des Regisseurs auseinander. Seine Fernseharbeit Happy New Year, Colin Burstead wird zweimal gewürdigt, sein mit minimalem Budget realisierter Debütfilm Down Terrace leider nicht.

Manche seiner Filme hatten ausserhalb Grossbritanniens keinen Kinostart, so auch der 2021 am NIFF in Neuchâtel gezeigte In the Earth, mit dem sich Wheatley erneut dem Genre des Folk-Horrors zuwandte. Der Band ist ein Wegweiser zum Werk des hier noch zu wenig beachteten Regisseurs. Frank Arnold

Titel

Ben Wheatley (Film-Konzepte 69)

Autor:in

Sascha Seiler

Verlag

edition text+kritik, 116 Seiten.

Preis

CHF 42 / EUR 28

Master gardener

Mysteriöse Vergangenheit

Blu-ray

Der Mann ist ein Experte auf seinem Gebiet und er liebt, was er tut, das ist seinen Überlegungen im Off sofort anzumerken. Narvel Roth ist Gärtner, mit seiner kleinen Gruppe von Mitarbeiter:innen pflegt er das grosse Grundstück einer reichen alten Dame, Mrs. Haverhill. Dass Narvels Existenz fragil ist, sieht man in den anfangs kurzen, dann ausführlicher werdenden Rückblenden. Sie zeigen, dass er ein früheres Leben hatte, eines, das zum jetzigen vollkommen konträr ist und um einiges gewaltvoller war. Mehr sei hier nicht verraten, denn der Film hat Zuschauer:innen verdient, die das Mysterium von Neuem entdecken.

Es geht, wie fast immer bei Paul Schrader, um redemption, um Erlösung, um Sühne für die Schuld, die ein Mensch (bei Schrader immer ein Mann) auf sich geladen hat. Muss die immer in einen Akt der Gewalt münden? Filme wie Schraders vorletzter, The Card Counter, oder die von ihm geschriebenen Taxi Driver und Rolling Thunder legen das nahe. Aber es gibt auch immer wieder die Hoffnung auf Erlösung, man denke nur an die aufeinander zugehenden Hände eines Mannes und einer Frau am Ende von American Gigolo, zitiert in The Card Counter, und eine Referenz an Robert Bresson (Schraders grosses Vorbild), dessen L’Argent hier bei einem Kinobesuch Tribut gezollt wird.

Master Gardener lebt vom Kontrast: einerseits die liebevolle Ausführung von Narvels Tätigkeit und die Zuneigung, mit der er sie in seinen Tagebucheintragungen beschreibt, andererseits die Gewalt am Ende des Films. Verknüpft werden sie durch Narvels Gedanken, die Parallelen zwischen dem Umgang mit Pflanzen und jenem mit Menschen ziehen.

Was für den Film einnimmt, ist auch die Komplexität seiner drei Hauptfiguren: Mrs. Haverhill weiss um die Vergangenheit ihres Angestellten, sie nutzt das auch, um eine weitere «Dienstleistung» von ihm einzufordern (die schon in früheren Schrader-Filmen eine zentrale Rolle spielte). Sigourney Weaver verkörpert diese Figur mit Eiseskälte, besonders gegenüber ihrer Grossnichte Maya, die Narvel nach dem Tod von deren Mutter in seine Gartenarbeit einbinden soll. Die negative Einstellung zur Verstorbenen überträgt Mrs. Haverhill auch auf deren Nachfahrin. Und als Maya erfährt, was Narvel früher gemacht hat, ist auch hier das gerade aufgebaute Vertrauen erst einmal zerstört. Wie das wieder hergestellt wird, das gehört zu den eindringlichsten Szenen dieses Films. Frank Arnold

Titel

Master Gardener (USA 2022)

Regie

Paul Schrader

Weitere Infos

111 Min., erschienen bei Leonine.

Preis

CHF 20 / EUR 15

Die Zeitnach Mitternacht

Nach Mitternacht im Grossstadtchaos

Blu-ray

An After Hours (Die Zeit nach Mitternacht) denkt man beim Namen Martin Scorsese wohl zuletzt. Das kann nicht nur daran liegen, dass dieser Film schon fast 40 Jahre alt ist. Schliesslich ist auch der vor 50 Jahren gedrehte Mean Streets heute noch ein Begriff, so wie viele weitere Gangsterfilme dieses Regisseurs – eine surreale, schwarze Grossstadtkomödie dagegen hat er nur ein einziges Mal gedreht (wenn man nicht gerade seinen Beitrag zum Episodenfilm New York Stories dieser Gattung zuschlagen möchte).

Albtraum einer Nacht: Der New Yorker Programmierer Paul Hackett lernt abends in einem Diner eine junge Frau kennen. Später folgt er Marcys Einladung in ihr Apartment im Künstler:innenviertel SoHo und muss feststellen, dass sie keine ganz unkomplizierte Person ist. Dann trifft er auf eine Reihe seltsamer Charaktere und wird schliesslich von einem Mob als vermeintlicher Einbrecher verfolgt. Da er sein Geld verloren hat, sieht er zunehmend die Möglichkeit schwinden, nach Hause zu kommen.

Paul ist fast immer in Bewegung, ebenso die Kamera von Michael Ballhaus, was dem Film eine Atemlosigkeit verleiht. Für Ballhaus war es die erste Zusammenarbeit mit Scorsese, wobei ihm das schnelle Drehen der Fassbinder-Filme im Jahrzehnt davor zugutekam. Im Rückblick wertet er es als Glücksfall, dass der ungleich aufwändigere The Last Temptation of Christ kurz vor Drehbeginn abgesagt wurde. So sieht es auch Scorsese, der sich selbst mit After Hours beweisen konnte, dass er Filme auch relativ schnell drehen kann – 42 Drehtage, gegenüber jeweils 100 bei Raging Bull und King of Comedy zuvor.

Der Audiokommentar, zu dem neben den beiden auch Griffin Dunne (Hauptdarsteller und Produzent), Amy Robinson (Produzentin) und Thelma Schoonmaker (Cutterin) beitragen, ist detailliert und höchst aufschlussreich, was diese aussergewöhnliche Produktion anbelangt. Er entstammt, wie zwei entfallene Szenen und eine kurze Dokumentation (19 Min.), der 2004 erschienenen amerikanischen DVD. Diese erste deutsche Blu- ray-Veröffentlichung präsentiert den Film im Digibook auf Blu-ray und DVD, mit umfangreicher Bildergalerie und Booklet. Eine schöne Ausgrabung in ansprechender Gestaltung. Wobei hinzuzufügen wäre, dass After Hours vor einigen Monaten auch bei Criterion (in den USA und in Grossbritannien) erschienen ist: Diese Ausgabe enthält zusätzlich zwei neue Beiträge (zusammen 38 Min.) und eine 4K-Aufbereitung. Frank Arnold

Titel

After Hours (USA 1985)

Regie

Martin Scorsese

Weitere Infos

97 Min., erschienen bei Plaion Pictures.

Preis

CHF 35 / EUR 30

Crazythunderroad24

Cyberpunk-Western-Tokio

Blu-ray und Vod

Rivalisierende Biker-Gangs versuchen sich an einer Allianz des Friedens. Doch während sich der Anführer nach einem bequemen bürgerlichen Leben sehnt, begreift der aufbrausende Unruhestifter Jin jeden Kompromiss als Niederlage. In seinem pulpig-existenziellen Abschlussfilm aus dem Jahr 1980 widmet sich der japanische Underground-Regisseur Sogo Ishii der brutalen und destruktiven Energie jugendlicher Wut. Von seinen wohlmeinenden Kumpels lässt Jin sich ebenso wenig beruhigen, wie er sich dem Anti-Individualismus einer faschistischen Bewegung beugen will. Crazy Thunder Road erzählt von der Unmöglichkeit einer Zähmung und ist mit seiner Do-it-yourself- Ästhetik, der entfesselten Kamera sowie dem ständig auf der Tonspur hämmernden Punk und Bluesrock selbst Inbegriff einer Rebellion, die keine Gefangenen macht.

Ähnlich eigenwillig wie Ishiis impulsive Inszenierung ist auch das futuristische Cyberpunk-Setting. Zwar tragen die Rocker wie in den Sechzigern Lederjacken, pomadiertes Haar und grosse Sonnenbrillen, aber die zerrütteten Lagerhallen und urbanen Betonwüsten, in denen der Film angesiedelt ist, atmen den Geist einer düsteren Science-Fiction. Im ansonsten menschenleeren Tokio wirken die ständig unter Strom stehenden Biker wie die letzten Überlebenden einer nuklearen Katastrophe. Statt sich jedoch einer Utopie zu verschreiben, zieht Crazy Thunder Road mit einem bleihaltigen Western-Showdown hinein in einen Strudel männlichen Zerstörungsdrangs. Die klassische Geschichte vom unangepassten Jugendlichen wird dabei zur nihilistischen Aussenseiter-Hommage, die in den Qualmwolken eines Vulkans endet. Im deutschsprachigen Raum ist dieser Rohdiamant des unabhängigen japanischen Kinos diesen Frühling zum ersten Mal in restaurierter Fassung auf Blu-ray und als VoD erschienen. Michael Kienzl

Titel

Crazy Thunder Road (1980)

Regie

Sogo Ishii

Weitere Infos

97 Min., erschienen bei Rapid Eye Movies.

Preis

CHF 25 / EUR 20

Unsichtbares und ungesagtes kunststoff einband bernadette kolonko

Feministischer Blick

Buch

Wie können feministische filmische Bilder aussehen? Reicht es auf der Erzählebene, den Held durch eine Heldin zu ersetzen? Während die Antwort auf die zweite Frage ausserhalb Hollywoods wohl ein klares Nein sein dürfte, treibt die erste Frage Filmschaffende immer wieder um. Nicht eine, sondern zehn mögliche Antworten liefert nun das Buch «Unsichtbares und Ungesagtes 10 Female * Feminist * Gazes» von Bernadette Koloko. Koloko, die sowohl Filmemacherin wie Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste ist, hat für ihr Buch nämlich mit zehn verschiedenen Regiepersonen gesprochen – etwa über ihre eigene Praxis oder über Filme, die sie geprägt haben.

Die Form des Buches spiegelt dabei dessen Inhalt auf erfrischende Art und Weise wider. Die geführten Gespräche stellen in ihrer Gesamtheit einen vielfältigen und vielschichtigen Diskurs dar, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Viel mehr kann das Buch als ein Innehalten und eine kurze Bestandesaufnahme von Teilen der zeitgenössischen feministischen Filmpraxis verstanden werden. Zu Wort kommen Filmemacherinnen wie Maryam Touzani, Valérie Massadian oder Kamila Andini, deren unterschiedliche Erfahrungen das Buch zu einer erhellenden Leseerfahrung machen.

Leicht lässt es sich in jedem einzelnen der verschriftlichen Gespräche verlieren. Dankbarerweise umreisst Koloko in ihrer Einleitung die Themen, die immer wieder auftauchen – Blicke, Materialitäten, Körper und Raum, Subjektivierungsprozesse. Abgesehen davon fasst Koloko die wichtigsten Theoretikerinnen des feministischen Kinos wie bell hooks oder Laura Mulvey kurz zusammen – trotz der akademisierten Sprache befasst sich das Buch aber mehr mit der Praxis als mit der Theorie, was sich im Verhältnis des jeweiligen Umfangs des Filmzum Literaturverzeichnis spiegelt. Dies ist aber kein Makel, finden sich doch bereits einigermassen umfassende Werke zum Thema, wie etwa Marcelline Blocks Anthologie, «Situating the Feminist Gaze and Spectatorship in Postwar Cinema».

Seine einzigartigen Einblicke in die Praxis so unterschiedlicher Filmemacherinnen machen das Buch zu einem must-read sowohl für angehende Filmschaffende wie auch für Cinephile. Zudem: die im Nachtrag von der Regisseurin Katharina Wyss geteilte Liste «Regisseurinnen mit Werk» bietet einen wunderbaren Startpunkt, um in die feministische Filmgeschichte einzutauchen. Noemi Ehrat

Titel

Unsichtbares und Ungesagtes. 10 Female * Feminist * Gazes

Autor:in

Bernadette Kolonko

Verlag

Schüren, 256 Seiten, als OA-Publikation auf der Schüren-Website downloadbar.

Preis

CHF 42 / EUR 28

1110560 3

Geschichtsstunde auf Koreanisch

Blu-ray

Sie wollen dasselbe und stehen sich doch als erbitterte Gegner gegenüber: Kim, der Chef des südkoreanischen Inlandsgeheimdienstes, und Park, der dem Auslandsgeheimdienst vorsteht. Beide verdächtigen den jeweils anderen, der nordkoreanische Spion Donglim zu sein. Sind sie Opfer eines Ablenkungsmanövers durch einen nordkoreanischen Maulwurf oder hat einer von beiden tatsächlich unlautere Motive?

Aber was heisst schon «unlauter»? Schliesslich spielt die Geschichte im Jahr 1983, als im Land eine Militärdiktatur herrschte. So bietet der Film neben dem Suspense, der sich aus der Frage ergibt «Wer ist der Verräter?», auch eine kleine historische Nachhilfestunde, die Zuschauer:innen dürfen sich fragen, ob es für das Land nicht besser gewesen wäre, wenn das Attentat auf seinen Präsidenten gelungen wäre, als der zu Beginn des Films zu einem Staatsbesuch in den USA weilt. Das so gern gesetzte Label «Inspired by real events» wäre hier im Vorspann jedenfalls nicht irreführend gewesen.

Der Schauspieler Lee Jung-jae, international bekannt geworden durch die Serie Squid Game und hier auch in der Rolle des Park zu sehen, erweist sich mit seinem Regiedebüt als kompetenter Regisseur, in den Actionszenen ebenso wie in der Psychologie der Figur. Durch zahlreiche Wendungen hält die Spannung bis zum allerletzten Augenblick an.

Das Bonusmaterial ist bei den jüngsten Home-Entertainment-Veröffentlichungen von Filmen aus Südkorea ziemlich standardisiert: kurze Grüsse und ebensolche Clips von der Premiere in Cannes; länger und mit höherem Gebrauchswert: Interviews und Making-of. Frank Arnold

Titel

Hunt (Heon-teu) (2022)

Regie

Lee Jung-Jae

Weitere Infos

125 Min., erschienen bei Plaion.

Preis

CHF 27 / EUR 17

Infinity pool blu ray mia goth

Kühle Dystopien

Blu-ray

Im Urlaub möchte man eigentlich nur das: einen unverstellten Blick aufs Meer, das am Horizont ins Unendliche verläuft. Oder das künstliche Äquivalent davon, das wäre dann der Infinity Pool, der die Endlosigkeit zumindest vorgaukelt und nach dem Brandon Cronenberg (Horrormeister David Cronenbergs Sohn) seinen Film benannt hat. Zuerst gibt’s tatsächlich viel Sonne und Meer, zwei schöne Menschen (Alexander Skarsgård, Cleopatra Coleman), die sich am Urlaubsort tummeln. Aber genau wie beim Infinity Pool trügt der erste Blick. James bringt nichts auf die Reihe, begibt sich bald in schlechte Gesellschaft. Was folgt, ist die audiovisuelle Durchbuchstabierung eines Gedankenexperiments über das Selbst, die Individualität und niedrigste mörderische Gelüste – eine filmische Schreckensstunde, wie sie nur ein Cronenberg je auftischen könnte.

Universal veröffentlicht Cronenbergs dritten Spielfilm für jene, die nicht an den Strand fahren, sondern lieber zuhause bleiben und mit heruntergekurbelten Rollläden das Blut über den Bildschirm fliessen lassen. Selina Hangartner

Titel

Infinity Pool (2023)

Regie

Brandon Cronenberg

Weitere Infos

118 Min., erschienen bei Universal.

Preis

CHF 24 / EUR 18

KB 5 23 Blood Virgin

Schuld und Sühne in L.A.

Comic

«Blood of the Virgin» klingt nach billigem B-Movie. Davon handelt der Comic des amerikanischen Autors Sammy Harkham oberflächlich auch. Der 27-jährige Seymour arbeitet Anfang der Siebzigerjahre in Los Angeles als Filmeditor. Er träumt von einer erfolgreichen Karriere als Regisseur, doch verbringt seine langen Arbeitstage weitab vom Hollywood-Schriftzug mit dem Schneiden schlechter, künstlerisch anspruchsloser Filme. Abends kehrt er zu seiner Frau und seinem Neugeborenen zurück, wo er vom Schreibaby die ganze Nacht wach gehalten wird. Seymour steckt offensichtlich in einer Krise. Doch dann kauft sein Chef eines seiner Drehbücher – «Blood of the Virgin» – und Seymour erhält die Chance, den Film zu realisieren. Was folgt, ist vorhersehbar: Seymour muss gegen begrenzte Budgets, schwierige Schauspieler:innen und ständige Eingriffe von oben kämpfen.

Oberflächlich gesehen ist die Geschichte ein nostalgischer Blick auf die schmuddeligen Grindhouse-Filme im Los Angeles der Siebzigerjahre. Bei näherem Betrachten geht es aber um Aussenseiter:innen, die versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Seymour und seine Frau Ida sind Juden. Ida wird vom viel beschäftigten Ehemann vernachlässigt und als aschkenasische Jüdin von Seymours Familie nicht geduldet. Die Geschichte handelt von der jüdischen Erfahrung einer neuen Generation, die versucht, sich von der düsteren Vergangenheit der Holocaust-Überlebenden und der vererbten Schuld zu lösen und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten einen Neuanfang zu wagen. Ganz so, wie vor ihnen jüdische Einwander:innen die grossen Hollywood-Studios gegründet haben. Giovanni Peduto

Titel

Blood of the Virgin

Autor:in

Sammy Harkham

Verlag

Reprodukt, 296 Seiten

Preis

CHF 40 / EUR 30

Alice Guy

Erste Filmregisseurin der Welt

Buch

Am 1. Juli 1873 wird Alice Guy in Saint-Mandé bei Paris geboren. Später lebt die Filmpionierin in den USA und leitet das von ihr gegründete Studio Solax, mit dem sie in grosser Zahl einaktige Kurzfilme produziert. Ihre vielen Lebensstationen lassen sich nun in dem spannenden Comic «Alice Guy» von Catel & Bocquet nachvollziehen.

Der französische Autor und Szenarist José-Louis Bocquet und die aus dem Elsass stammende Illustratorin Catel Muller verdichten in ihrer biographischen Graphic Novel das von Höhen und Tiefen gekennzeichnete Leben der ungewöhnlichen Frau in strenger zeitlicher und mit jeweils wechselnden Orten verbundener Chronologie. Catels feine und auf das Wesentliche konzentrierten Schwarzweiss-Zeichnungen sowie Bocquets elliptische, an markanten Ereignissen und Umbrüchen orientierte Erzählweise lassen anhand der biographischen Szenen zugleich das Kolorit und den Aufbruchsgeist einer ganzen Epoche erstehen.

Eng verknüpft ist das Portrait der «ersten Filmregisseurin der Welt», das jetzt zu ihrem 150. Geburtstag in deutscher Sprache erscheint, mit der Entwicklung des Kinematographen und filmästhetischen Fragen im weiten Feld zwischen Realismus und Illusion. Ausserdem behandelt der gewichtige Band, der durch eine detaillierte Chronologie und umfangreiche Kurzbiografien ergänzt wird, Alice Guys frühe Kämpfe für weibliche Selbstbestimmung. Wolfang Nierlin

Titel

Alice Guy

Autor:in

Catel Muller, José-Louis Bocquet

Verlag

Caterman, 400 Seiten, auf Französisch

Preis

CHF / EUR 40

Fumer photos v2 x2

Quentin Dupieux macht sehr schnell süchtig

Blu-ray

Einst machte sich der exzentrische Regisseur einen Namen mit einem mordenden Reifen. Rubber lockte 2010 hierzulande noch mehr als 10 000 Menschen in die Kinos. Seither hat der Franzose sieben Filme herausgebracht, der letzte, Fumer fait tousser, lief letztes Jahr in Cannes als Nocture. In der Romandie kam die Komödie vergangenen Herbst in die Kinos, bei uns in der Deutschschweiz hingegen ... naja. Natürlich ist Dupieux’ Humor nicht für jede:n. Da hilft auch der starbesetzte Cast mit Gilles Lelluche, Anais Demoustier, Benoît Poelvoorde und Adèle Exarchopoulos nicht. In seinem neusten Film bestreitet die «Tabac Force» den Kampf des Guten gegen ungeheuerliche Echsenmonster mit den vereinten Kräften des Nikotins, Methanols, Ammoniaks, Benzins und des Quecksilbers. Wer in seiner Kindheit je Power Rangers gesehen hat und mit seinen Freunden deren Namen schreiend vom Hügel gesprungen ist, kann sich ein Bild von der Action machen, die einen da erwartet – Papp- und Kautschuckmodelle inklusive.

Doch so abwegig der Humor des unbekannteren Quentin (andere Filme beinhalteten eine übergrosse Fliege oder eine sprechende Wildlederjacke) auch sein mag, so versiert ist der Filmemacher mit seinem Einsatz. Die Geschichte der Tabac Force dient in Fumer fait tousser schliesslich nur als Rahmenhandlung für eine Reihe gruslig-lustiger Lagerfeuergeschichten, die die Gruppe, zum Teambuilding-Urlaub verdonnert, sich erzählt. Darunter jene eines Helms, der seine Trägerin sich in gedanklicher Klarheit verlieren und als Konsequenz ihre Freunde ermorden lässt. Auch der Barracuda, der auf dem Grill brutzelt, hat noch eine Geschichte voller Blut und Schrägheit zu erzählen. Nur das Ende fehlt, weil sein eigenes ihm zuvorkommt.

Das ist dann auch das Element, das den Film zusammenhält, oder ihn besser gesagt in voller Absicht schreddert. Wer Dupieux kennt, weiss, dass es seine Eigenart ist, sich einer Pointe zu verweigern oder diese, wie in seinem Meisterwerk Réalité, zum erzählerischen Zirkelschluss zu wenden. So hat keine der erzählten Geschichten in Fumer fait tousser ein Ende, auch nicht die Rahmenhandlung. Eigentlich hätten wir das ja wissen sollen. Denn Rauchen verursacht Husten, klar. Das ist ja aber erst der Anfang. Wie das hingegen endet, wissen wir alle. Michael Kuratli

Titel

Fumer fait tousser (2022)

Regie

Quentin Dupieux

Weitere Infos

77 Min., mit franz. und engl. Untertiteln, erschienen bei Gaumont.

Preis

CHF / EUR 24

Gustaf Gruendgens Faust Mephisto

Vergessener Filmer

Buch

Ein Mann des Theaters. Und einer, der für die Kunst seine Seele verkaufte. Das sind die gängigen Vorstellungen von Gustaf Gründgens (1899–1963), letztere gespeist aus Klaus Manns Schlüsselroman «Mephisto» und dessen Verfilmung durch Istvan Szabo. Dass seine Arbeit zwischen 1930 und 1960 auch 33 Filme umfasst, geriet dabei in den Hintergrund, mit dem vorliegenden Buch wird das korrigiert. Die Autorin widmet sich nach einführenden Bemerkungen den einzelnen Filmen, skizziert Produktions- und Rezeptionsgeschichte und analysiert Gründgens’ Darstellung (besonders ausführlich: seine Unterweltgrösse in Fritz Langs M) bzw. seine Inszenierungsweise (bei den sechs Kinofilmen, bei denen er Regie führte). Eine so lesenswerte wie materialreiche Darstellung. Frank Arnold

Titel

Gustaf Gründgens. Filmische Arbeiten 1930–1960

Autor:in

Kristina Höch

Verlag

Schüren Verlag, 362 Seiten.

Preis

CHF 50 / EUR 38 (E-Book EUR 30)

KB Here 2

Im Hier und Damals

Comic

33 Kilometer nördlich von Rom befinden sich die Wasserfälle von Monte Gelato. Obwohl von bescheidener Grösse, haben die Cascate besondere Bedeutung erlangt. Sie zählen zu den am häufigsten verwendeten Filmdrehorten. Da sie in der Nähe von Cinecittà liegen, wurden sie ab den 1950ern Schauplatz von zahlreichen italienischen Filmen, Fernsehserien und Werbespots aus allen Genres: Sandalenfilme, Spaghetti-Western, Horror, Komödien, Thriller oder Erotikfilme. Der Videokünstler Davide Rapp hat die über 180 Filme während fünf Jahren gesammelt und sie in einer beindruckenden Montage übereinandergelegt. Aus diesen zahlreichen Filmsequenzen hat Rapp eine immersive VR-Collage erschaffen, welche die Wasserfälle in einem (filmischen) Raum-Zeit-Kontinuum zeigt.

Comic-Kenner:innen erinnert dieses Konzept vielleicht an den US-Autor Richard McGuire. Dieser hatte 1989 auf sechs Seiten im legendären Comic-Magazin «RAW» auf neuartige Weise Zeit, Ort und Handlung verschachtelt. Auf 36 Panels zeigt «Here» immer denselben Raumausschnitt an verschiedenen Punkten in der Zeit: Während 1902 gerade das Haus gebaut wird, welches das Setting in Zukunft bestimmen wird, liest ein Mann 1945 an der gleichen Stelle in einem Sessel die Zeitung. Kurz darauf schlägt eine Abrissbirne 2030 durch die Hauswand, während eine Seite später eine Indianersiedlung von 1750 zu sehen ist oder 1984 unter dem Weihnachtsbaum gefeiert wird. Mit «Here» versucht McGuire das Verständnis des Zeit-Raum-Gefüges zu verbildlichen und die Vergänglichkeit des Menschen gegenüber der Unendlichkeit festzuhalten. 2014 weitete er die Geschichte auf 300 Seiten aus. Davide Rapps Umsetzung des Konzepts in Filmform ist eine ebenbürtige Fortsetzung der genialen Idee. Giovanni Peduto

Monte Gelato (Davide Rapp, 2021), auf vimeo.com

Titel

Here

Autor:in

Richard McGuire

Verlag

Pantheon Books, 300 Seiten.

Preis

CHF 40 / EUR 30

Maxresdefault

Hilde Warren und der Tod

Blu-ray

Ein Melodrama reinsten Wassers: Hilde Warren heiratet einen Mann, der sich als Mörder erweist; dessen Sohn trägt die «vererbte Anlagung zum Bösen» in sich. Wiederentdeckt im Rahmen von Retrospektiven des Regisseurs Fritz Lang, der hier, zwei Jahre vor seinem Regiedebüt, als Drehbuchautor verantwortlich zeichnet, sind thematische Bezüge wie die schicksalhafte Verknüpfung von Ereignissen und das Auftreten des Todes selber offensichtlich.

Regisseur Joe May weiss nicht nur seine Ehefrau und Hauptdarstellerin ins rechte Licht zu setzen, sondern beweist auch ein ausgesprochenes Gespür für die Inszenierung des Raumes, zumal bei der Staffelung in die Tiefe. 2001 restauriert, 2016 digitalisiert, jetzt endlich – mit Bonusmaterial (auch ein faktenreicher Audiokommentar) – veröffentlicht. Durchaus eine Entdeckung. Frank Arnold

Titel

Hilde Warren und der Tod, 1917

Regie

Joe May

Weitere Infos

61 Min., erschienen bei ostalgica

Preis

CHF 35 / EUR 25

Leit 1 KEN ADAM CE GB FURNITURE001 X 01143

Ritterliche Exklusivität

Buch

Wenn ein Ritter über einen anderen Ritter ein Buch macht, klingt das erst mal wie ein Tauschhandel unter Aristokraten. Doch wenn die Kritikergrösse Sir Christopher Frayling über Sir Ken Adam schreibt, beziehungsweise sich mit ihm für diverse Gespräche zusammensetzt, dann ist das natürlich etwas anderes. Hier steht dann die Popkultur im Vordergrund, konkreter noch die ikonischen Bildwelten, die Adam als Filmarchitekt für einige der grössten Filmproduktionen des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. Wenn nur ein Set von Adam in der Erinnerung klebenbleiben sollte, dann wohl der War Room aus Dr. Strangelove. Die wie ein Heiligenschein über dem runden Tisch der Generäle schwebende Lampe ist dabei ebenso stilbildend wie die brutalistische Kassettendecke und die erschlagend überhängenden Weltkarten.

Überhaupt fand der deutsch-englische Kriegsgeflüchtete Adam in den Phantastereien des Kalten Kriegs eine Heimat. Allem voran prägte er diverse Bond-Produktionen. Vom schlichten Vorzimmer in Dr. No bis zur Mondstation in Moonraker setzte er gestalterische Massstäbe. Das beim Taschen Verlag erschienene grossformatige Buch ist mit diversen Skizzen und Setfotografien unter anderem aus dem Archiv der EON Productions versehen.

Nicht ganz so populär wie der Inhalt dürfte der Preis sein. Für 850 Franken oder Euro lässt sich eines von insgesamt 1200 von Sir Ken handsignierten Exemplaren erstehen. Wer zudem ein Vorzimmer wie Dr. No hat, kann sich den teuren Spass auf den mitgelieferten, gravierten Buchständer aus Acryl stellen. Michael Kuratli

Titel

The Ken Adam Archive

Autor:in

Christopher Frayling

Verlag

Taschen Verlag, 360 Seiten, 3.88 kg

Preis

CHF / EUR 850

Lockruf des Kinos Kurz Belichtet Kinoplakate

Kinoplakate

Buch

Wer sich mit der deutschen Filmplakatkunst der frühen Weimarer Republik beschäftigt, stösst unweigerlich auf den Namen des Grafikers, der mit seinem expressionistischen Stil auffiel.

1895 geboren, studierte er ab 1918 an der staatlichen Lehranstalt des Kunstgewerbemuseums in Berlin. Seine Entscheidung für Filmplakate begründete er 1935: «Aus dem lebendigen Wesen des Films sind in hohem Masse die Möglichkeiten gegeben, Fantasie und Farben anzuwenden, um Plakate von grossem Reiz und frappierender Eigenart zu schaffen, ja solche, die kaum vergessen werden können.»

Wo heute Filmplakate meist auf Fotos zurückgreifen, lieferten diese für Fenneker lediglich Inspirationen, mit deren Hilfe er «die Idee des jeweiligen Films gestaltete und das Wesentliche herausarbeitete.» Den fertigen Film vorab zu sehen, war ihm nur in Ausnahmefällen vergönnt, die Arbeit geschah unter Zeitdruck, zwischen 1918 und 1924 schuf er 140 Plakate für das Marmorhaus am Kurfürstendamm.

Auch das ist eine neue Information, die diesem Buch zu entnehmen ist: die Exklusivität seiner damaligen Arbeiten, ausschliesslich für ein Kino, ein Premiumkino, wie man heute sagen würde, seinerzeit «das renommierteste Filmtheater Berlins», 1913 eröffnet, mit Eintrittspreisen, die erheblich über den normalen lagen, Kino für ein wohlsituiertes Stammpublikum. Auf den Plakaten stand jedes Mal auch der Name des Kinobetreibers, als Markenzeichen, dass hier für gutes Geld Spitzenfilme geboten wurden. «Der hohe Wiedererkennungswert seiner Filmplakate sicherte dem Marmorhaus Stammkundschaft», schreibt Harald Neckelmann – das Filmplakat als Teil einer corporate identity.

Die Konzentration auf das Marmorhaus hatte allerdings ihren Preis: Nachdem dessen Betreiber seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte und das Kino den Besitzer wechselte, musste sich Fenneker umorientieren – durch Arbeit als Gebrauchsgrafiker und Pressezeichner, später als Bühnenbildner, was auch nach 1945 sein Tätigkeitsfeld war.

1956 starb Fenneker an einem Herzschlag. Nach 34 Seiten Text sind die restlichen 170 Seiten den, oft ganzseitigen, Abbildungen von Fennekers Plakaten der Jahre 1918–24 vorbehalten – eine Augenweide. Frank Arnold

Titel

Lockruf des Kinos. Der Plakatkünstler Josef Fenneker

Autor:in

Harald Neckelmann

Verlag

Schüren Verlag, 208 S.

Preis

CHF 52 / EUR 34