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Ni juge ni soumise 5

Ni juge, ni soumise

Der belgische Dokumentarfilm über eine aufmerksame, direkte und humorvolle Untersuchungsrichterin, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zurückhält, ist höchst unkonventionell, mit Sinn für das Absurde in der Comédie humaine.

Text: Christoph Egger / 05. Juli 2018

Der Titel ist ausserhalb des frankophonen Raums unverständlich. Und innerhalb zumindest umstritten. Sagt doch der Regisseur selbst – der Belgier Jean Libon, der diesen Dokumentarfilm zusammen mit seinem Landsmann Yves Hinant realisiert hat –, dass er die englische Version vorgezogen hätte: «So help me God.» Aber dergleichen habe in Frankreich keine Chance. Also ist es beim Marketinggag geblieben, der auf «Ni pute ni soumise» anspielt, den Slogan der feministischen Bewegung aus den französischen Trabantenstädten, die 2003 dagegen antrat, Frauen nur als «unterwürfige Dirnen» zu behandeln. Der Titel ist doppelt idiotisch, weil die Protagonistin effektiv «juge» ist beziehungsweise «juge d’instruction», was hierzulande einer Untersuchungsrichterin oder Bezirksanwältin entsprechen dürfte. Und nur schon zu suggerieren, sie könnte «soumise» sein, ist für jede Untersuchungsbehörde eine Beleidigung.

Anne Gruwez heisst sie und residiert im mächtigen Palais de Justice von Brüssel. Sie tut das in einem bescheidenen Büro, das immerhin gross genug ist, ein, zwei weitere Leute unterzubringen, deren Funktion eher unklar bleibt, dann bis zu drei Klienten (tendenziell männlich) samt deren Anwalt (oft auch Anwältin) sowie, während der Dreharbeiten, die Filmequipe. «Es ist nett, wenn zufriedene Kunden wiederkommen», sagt Madame Gruwez, und in der Tat, gewisse Klienten gehen bei ihr offenbar seit Jahren ein und aus. Wenn sie sich etwas nicht macht, dann Illusionen über die menschliche Natur, die sie in den Spielarten Mord, Totschlag, Raub, Vergewaltigung nebst so manchem kleineren Vergehen zu beurteilen hat. Sie mag zynische Sprüche machen, mit denen sie jüngere Mitarbeiterinnen erschreckt, und selber sagen, es sei schrecklich, sie sei wieder einmal abscheulich. Aber in einzelnen Fällen scheint es ihr auch wirklich ein Anliegen zu sein, die Betreffenden vor einem erneuten Gefängnisaufenthalt zu bewahren. Sentimental ist sie dabei schon gar nicht, und ebenso wenig lässt sie sich einwickeln von einem Charmeur, der Süssholz raspelt bezüglich ihres Vornamens. Und wenn der gepflegte grauhaarige Herr, der Kinder mit vier verschiedenen Frauen hat und eine fünfte geschlagen haben soll (was er schwört, nicht getan zu haben), gesagt bekommt, er sei frei und dürfe gehen, und er ihr zum Abschied die Hand reichen will, sagt sie ihm: «Gaunern gebe ich die Hand nicht», und fragt, ob er ihr die Hand auch hätte geben wollen, wenn sie ihn ins Gefängnis geschickt hätte.

Ni juge ni soumise 1

Die Eröffnungssequenz, die auf exemplarische Weise die Beziehung Richterin-Angeklagter vorführt – und damit im Wesentlichen die Struktur der folgenden Episoden im Büro von Gruwez etabliert –, lässt unwillkürlich an filmische Verfahren von Frederick Wiseman (der von Haus aus ja Jurist ist) denken. Doch mit der Zeit werden die Unterschiede zu Wiseman offensichtlich. Wo Wiseman – zumindest in seinen besten Arbeiten (und es sind deren nicht wenige) – immer auch die übergeordneten Strukturen im Blick hat, die «Institution», geht es Libon/Hinant offenkundig nur um die Person. Wir erfahren also nichts über das «System» des Strafwesens in Belgien, zumindest nicht über die ihm zugrundeliegenden Prinzipien. Oder besser: Wir erfahren durchaus etwas, aber nur in der Interpretation durch Madame la Juge: reine Praxis, keine Theorie, auch nicht bei juristischen Grundsatzfragen. Zwischendurch kann die Erzählung auch Züge eines Fernsehfeatures annehmen, etwa wenn wir Madame auf dem Weg zur Arbeit sehen, in ihrem klapprigen 2CV (offensichtlich eine alte Liebe, nach all den 2CV-Modellen zu schliessen, die im Büro einen prominenten Platz einnehmen), gern zu lauter Barockmusik, wobei sie auf dem Steuerrad den Takt schlägt. Oder auch zu Hause, wo am Computer oder bei der Gartenarbeit ihr Pullover am Rücken plötzlich einen Wulst entwickelt, aus dem dann eine zahme weisse Ratte auf Erkundungstour wird …

Ni juge ni soumise 2

Die Aufnahmen zum Film sind offenbar über einen Zeitraum von drei Jahren erfolgt. Anstatt nun die Brüche beziehungsweise Sprünge chronologisch zu kennzeichnen und sie damit dramaturgisch wirksam zu machen, überlassen Libon/Hinant es dem Publikum, sich seinen Reim selber zu machen und allfällige Verbindungslinien zu ziehen. Dies besonders bei einem «cold case», einem Mordfall an zwei Prostituierten, der zwanzig Jahre zurückliegt, wo neue forensische Methoden nun die Möglichkeit zu eröffnen scheinen, den Täter doch noch zu identifizieren. Doch die seinerzeit sichergestellten Proben haben gelitten, und auch die Exhumierung eines Tatverdächtigen samt Entnahme von genetischem Material – in bester belgischer Manier fürs Makabre auf einem Friedhof im schönsten Sonnenschein inszeniert, Madame mit einem pink Sonnenschirm – bringt nicht das erhoffte Resultat.

Ni juge ni soumise 3

Da im Film auf der Seite der Angeklagten ausschliesslich Personen mit Migrationshintergrund (allerdings häufig wohl in zweiter oder gar dritter Generation) figurieren, konnte der Vorwurf des Rassismus nicht ausbleiben. Dabei ist Anne Gruwez nun freilich ein Paradebeispiel vorurteilsfreien Umgangs mit ihrer Klientel – zumindest in den Fällen, in denen sie ihren rückfallgefährdeten Pappenheimer nicht schon seit Jahren kennt. Aufmerksam, direkt, humorvoll, hält sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zurück: seien es allgemeine Empfehlungen zum Lebenswandel oder, in einem Fall, zu den Risiken der Verwandtenehe. Reine Realsatire wird die (etwas gar ausführliche) Szene mit einer Domina, wenn da zwei Expertinnen sich in einem Dialog über Theorie und Praxis der Handschellen gegenseitig hochschaukeln, während dem ebenfalls anwesenden Mann ob soviel weiblicher Exaltation bloss ein Achselzucken bleibt. Wer noch den Waadtländer Bezirksanwalt Jean-Claude Gavillet in Pierre-François Sauters Porträt Face au juge (2009) in Erinnerung haben sollte, diesen Inbegriff sorgsamen Umgangs mit den Schicksalen der Menschen, die mit den Vorgaben bürgerlicher Rechtschaffenheit nicht mehr zurechtgekommen sind, der wird hier das durchaus faszinierende Gegenstück finden: höchst unkonventionell, mit Sinn für das Absurde in der Comédie humaine.

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