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Le vent tourne

Das Leben in der ländlichen Idylle ändert sich für Pauline. Das ist grandios anzuschauen, aber indem der Film uns alles ausbuchstabiert, schadet er sich selbst.

Text: Stefan Volk / 29. Jan. 2019

Zwei der schönsten Szenen aus Le vent tourne spielen am Creux du Van. Das erste Mal kutschiert Pauline, eine junge Ökobäuerin, zwei Besucher dorthin, um ihnen den eindrucksvollen Kessel zu zeigen. Es herrscht jedoch derart dichter Nebel, dass sie kaum bis zu ihren Füssen sieht, die dem Abgrund bedrohlich nah kommen. Pauline tastet sich durch das haltlose Weiss und ruft panisch nach ihren vom Nebel verschluckten Begleitern: Sie sollen sich nur ja nicht von der Stelle rühren! Erst viel später, am Ende des Films, als Pauline zum zweiten Mal zum Creux du Van fährt, erscheinen die schroff abfallenden Felswände auf der Leinwand. Ein imposanter, überwältigender Anblick, den die Protagonistin jetzt aber mit niemandem mehr teilt. Diesmal ist sie alleine gekommen.

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Mit diesen bildgewaltigen Aufnahmen setzt Regisseurin Bettina Oberli (Die Herbstzeitlosen, [art:tannod:Tannöd]), die auch am Drehbuch mitwirkte, zwei zentrale Wegmarken in der dramaturgischen Entwicklung ihres Stoffs. Der Nebel bildet Paulines innere Des­orientierung gleichsam meteorologisch ab. Die Gefühle vernebeln ihr den Verstand. Am Schluss hat sie das persönliche Chaos überwunden und sieht endlich wieder klar. Man muss nicht Freuds «Traumdeutung» durchgeackert haben, um das zu dechiffrieren. Die Symbolik entblättert sich ganz von selbst. Leicht und sinnlich fühlt sich §Le vent tourne dadurch an, aber auch ein bisschen lau und mitunter kitschig.

Und leider fängt es auch gleich so an. Ein kleiner, abgelegener Hof im Jura. Ein junges, attraktives und idealistisches Paar, Pauline und Alex, alternative Landwirte aus Überzeugung. Ein paar Kühe und süsse Wollschweine. Dazu eine gelangweilte Teenagerin aus Tschernobyl als Kurgast, die auf der verzweifelten Suche nach einem Mobilfunknetz über die Wiesen stolpert wie die Stadtgöre aus einem Ponyhoffilmchen. Wifi wollen sie hier nicht. Genauso wenig wie Melkmaschinen, Kunstdünger, Pestizide, Futterzusätze oder zum Leidwesen von Paulines Schwester Mara, der Tierärztin am Ort, Antibiotika und Impfstoffe. Zunächst funktioniert scheinbar auch so alles wunderbar. Der Tag beginnt mit zärtlichem Sex, dann trifft Galina, das Mädchen aus Tschernobyl, ein. Eine ganze Horde Kinder, die später anderswo untergebracht werden, begleitet sie. Die Gruppe macht nur kurz halt, um Galina abzusetzen. Ausgelassen tollen die Kinder durch das sattgrüne Gras, kuscheln mit den Wollschweinchen. Ein Idyll wie aus dem «Landleben»-Kalender. Und Pauline lächelt selig.

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Wenig später wird das sehnlich erwartete Wind­rad angeliefert, mit dem sich das Paar endlich von der öffentlichen Stromversorgung unabhängig machen möchte. Aber der Ingenieur, der die Turbine aufstellen und einrichten soll, brettert wie ein Bond-Bösewicht aus alten Tagen über den Schotterweg und zieht eine dicke Staubwolke hinter sich her. Quasi zur Begrüssung fährt er erst einmal eines der süssen kleinen Schweinchen tot. Pauline reagiert wütend und angewidert. Weil dieser Samuel aber nicht nur hemmungslos und ungestüm, sondern auch ziemlich gutaussehend ist, muss man kein Prophet sein, um zu ahnen, wie das weitergeht.

So wie Mélanie Thierry ihre Figur anlegt, sanft und spröde, schüchtern, aber zäh, ernst und sinnlich, kann man sich gut vorstellen, dass sie nur auf eine Gelegenheit gewartet hat, aus dem goldenen Moralkäfig auszubrechen, in den sie sich selbst gesperrt hat. Ausgerechnet im Nebel am Creux du Van finden Pauline und Samuel dann das erste Mal zueinander. Ihre Fingerspitzen berühren sich beim Lufttanz der durchs Weiss fliegenden Hände. Auch das kein sonderlich hintergründiges Motiv, jedoch ein sehr schönes. Immer wieder schleicht sich Pauline anschliessend nachts zu Samuel, der während der Montagearbeiten auf dem Hof übernachtet. Und nachdem er wieder abgereist ist, macht sie das laute Brummen der Rotorblätter verrückt. Mit einem Stein prügelt sie nachts auf die Schaltkreise der Turbine ein, bis das Windrad wie ein gefällter Riese endlich zum Stillstand kommt. Samuel kehrt zurück, um es zu reparieren, die Affäre geht weiter, verheimlichen aber lässt sie sich bald nicht mehr.

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Bettina Oberli, die 2013 in ihrer ersten Theaterinszenierung Tolstois «Anna Karenina» in Basel auf die Bühne brachte, konzipiert die Heldin ihres ersten französischsprachigen Spielfilms als Anna Karenina vom Biohof im Spannungsfeld zweier widersprüchlicher Männer: hier der tugendhafte Alex, dort der – Achtung: Leitmotiv! – windige Lebemann Samuel, der zwischen seinen Auftraggebern keinen Unterschied macht, egal ob Ökobauer oder Atomindustrie. Dass sich idealistischer Anspruch und sexuelle Energie zu einem scheinbar unauflöslichen Chiasmus verschränken, beschreibt das Konfliktfeld, in dem sich Pauline und mit ihr der Film bewegen. Wäre Oberli hier mit einer Lösung ebenso schnell zur Hand wie bei ihrer Symbolik, würde der Streifen unweigerlich zur trivialen Schmonzette verkümmern. Glücklicherweise aber lässt die 46-jährige Regisseurin an dieser entscheidenden Stelle Raum für Widersprüche. «Kann ich nicht anders denken, und das, was ihr macht, trotzdem bewundern?», fragt Samuel sinngemäss. Doch, scheint Oberli mit ihrem Film zu antworten, das kann man. Um Recht oder Unrecht geht es bei all der wuchtigen, pathetischen und leuchtend schönen Heimatfilm- und Lagerfeuerästhetik allenfalls am Rande. In Zeiten binärer Denkstrukturen und polarisierter Debatten eine wohltuend entspannte, menschliche Haltung.

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Le vent tourne will gar nicht viel sein, vielleicht nicht mal eine grosse Liebesgeschichte. Alles, was der Film zu sagen hat, verrät er eigentlich bereits mit seinem Titel. Der Wind dreht. Hinzuzufügen wäre nur noch: für Pauline. Ein Mensch verändert sich, entwickelt sich, sucht nach Identität. Darum geht es im Grunde. Nicht mehr, nicht weniger.

Stéphane Kuthy, Oberlis langjähriger Kameramann (und ausserdem ihr Ehemann), erzählt das in starken, mächtigen Aufnahmen, Szene für Szene, Einstellung für Einstellung: prachtvoll, üppig. Seine Bilder aber sprechen so sehr für sich selbst, dass Dialog nahezu überflüssig und redundant erscheint. Als hätte man einen Stummfilm nachsynchronisiert. Am schlimmsten wird es ganz am Schluss mit einem kurzen Gespräch, das so aufgesetzt wirkt und so unnatürlich verläuft, dass es die doch eigentlich überzeugend verkörperten Figuren nachträglich jeder Glaubhaftigkeit beraubt. Nur das Windrad dreht sich stoisch weiter.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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