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Dolor y gloria

Pedro Almodóvar wendet sich zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt wieder einem teilweise autobiografischen Stoff zu und verwebt ein weiteres Mal virtuos Kinoreflexion und Kindheitserinnerungen.

Text: Doris Senn / 13. Juni 2019

Wie Pedro Almodóvar es immer wieder schafft, einen ureigenen Kosmos zu kreieren und uns – trotz bekannten Versatzstücken – in seinen Bann zu schlagen, geschmeidig Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfliessen zu lassen und disparate Erzählstränge auf wundersame Art miteinander zu verknüpfen, ist erstaunlich. So einmal mehr in Dolor y gloria. Die Hauptfigur ist Salvador Mallo, ein in die Jahre gekommener Regisseur – unschwer als Alter Ego von Almodóvar erkennbar (Antonio Banderas verkörpert ihn perfekt: mit zerzauster Frisur und Bart, charakterstark und verletzlich zugleich). Salvador nun, von Depression und Schmerzen ebenso gepeinigt wie von einer Schaffensblockade, lebt zurückgezogen und allein. Kindheitserinnerungen tauchen auf: wie er den Frauen aus dem Dorf zuschaut, die die Wäsche im Fluss waschen und über dem Binsengras zum Trocknen auslegen, wie er im Internat von den Padres zum Solisten des Knabenchors auserwählt wird oder wie er zum ersten Mal unschuldiges Begehren verspürt: gegenüber dem jungen Maurer, der die familiäre Behausung tüncht und dafür vom kleinen Salvador das Lesen und Schreiben erlernt.

In einer Verspiegelung von Dichtung und Wahrheit, von Fiktion in der Fiktion, wie sie Almodóvar so sehr liebt, wird die Hauptfigur aber auch von der jüngeren Vergangenheit eingeholt. Salvadors erfolgreichster Film (der fiktive «El sabor»), der vor rund dreissig Jahren entstand, wird wiederaufgeführt. Damit verbunden ist die Kontaktaufnahme durch den ihm einst eng verbundenen Protagonisten des Films, Alberto. Ihre Freundschaft zerbrach im Gefolge des Films. Nun sollen sie anlässlich «El sabor» wieder gemeinsam vor Publikum auftreten – während Alberto sich insgeheim neue Impulse für seine Karriere erhofft. Nach einigem Hin und Her erhält Alberto zwar keine neue Rolle von Salvador, aber doch ein Script, das er erfolgreich für die Bühne adaptiert: einen Monolog über eine grosse Liebe, die an Sucht und Drogen scheiterte. Federico, Salvadors erste grosse Liebe, ist auf Durchreise in der Stadt und landet «durch Zufall» in ebenjenem Theater, nur um im Stück die eigene Liebesgeschichte wiederzuerkennen …

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Ohne es zu wollen, schreibt Pedro Almodóvar, habe er mit Dolor y gloria, den dritten Teil einer Trilogie – nach La ley del deseo (1987) und La mala educación (2004) – realisiert. Sie alle stünden im Zeichen der «Autofiktion» – einer Mischung aus Autobiografischem und Erfundenem. Alle drei drehen sich in der Tat um eine männliche Hauptfigur und haben schon allein dadurch eine Sonderstellung inne im bislang nicht weniger als 22 Titel umfassenden Werk Almodóvars, das ansonsten vorzugsweise den Frauen und ihrem Gefühlsuniversum Hommage erweist.

Dolor y gloria nun nimmt die in den früheren Filmen erzählten Geschichte(n) des «Begehrens» und der «Kindheit» wieder auf. Die Hauptfigur in La ley del deseo – mit dem Almodóvar vor 32 Jahren seinen Durchbruch feierte – lebt in einer Dreiecksgeschichte mit zwei Männern und eng verbunden mit seiner Schwester, einer Theaterschauspielerin, die er mit einem für sie verfassten Monolog aus dem Karrieretief herausholt. In La mala educación wird ein Filmemacher in Schaffenskrise von seiner Kindheit eingeholt. Almodóvar erzählt von den Padres und ihren Übergriffen, vom Schulfreund Ignacio, der an diesen zerbricht, und von dessen Bruder, der an Ignacios Stelle tritt und schliesslich dem Filmemacher die Geschichte als Drehbuch anbietet.

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Dolor y gloria geht erneut zurück in die Kindheit, lässt die Jahre des Ruhms wiederaufleben und führt uns bis in die Reife des Filmemachers, dessen Schaffensdrang zwar ungebrochen ist, der sich jedoch nicht zuletzt der Endlichkeit seines Lebens gegenübersieht. So schafft Almodóvar über den Cast – er arbeitet immer wieder mit denselben Schauspieler_innen, die mit ihm älter geworden sind – wie in einem Vexierbild noch zusätzliche Bezüge: etwa mit Antonio Banderas, der seine Karriere unter anderem als Liebhaber in La ley del deseo begann, oder auch mit Penélope Cruz, die schon in Todo sobre mi madre (1999), Volver (2006) und anderen mehr Paraderollen innehatte und hier als Mutter des kleinen Salvador auftritt. Oder Julieta Serrano, altgediente Almodóvar-Akteurin aus Pepi, Luci, Bom … (1980), Matador (1986) und drei weiteren Filmen, die nun die alt gewordene Mutter Salvadors spielt – wie auch «Urgestein» Cecilia Roth aus Laberinto de pasiones (1982), Todo sobre mi madre (1999) und vier weiteren Titeln, die sich in der Rolle der Zulema wie eine Doppelgängerin von Almodóvars Fetischschauspielerin Carmen Maura ausnimmt.

Ohne die exzentrischen Figuren und das groteske Überborden der Handlung, die zu einem Markenzeichen von Almodóvars Schaffen wurden und die zumindest ansatzweise auch die beiden ersten Teile der sich über 32 Jahre spannenden «Trilogie» prägen, gibt sich Dolor y gloria zurückhaltender, auch subtiler, poetischer, versöhnlicher – vielleicht gar altersmilde. Ein typischer Almodóvar, der einmal mehr die grossen Emotionen und Obsessionen Revue passieren lässt – und gleichzeitig ein sehr persönliches Porträt des ungebrochen schaffenshungrigen Filmemachers, der dieses Jahr siebzig Jahre alt wird.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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