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Santiago, Italia

Ein melancholischer Blick auf vergangene Dissidenzen in Argentinien – und gleichzeitig eine bittere Abrechnung mit dem Italien der Gegenwart.

Text: Doris Senn / 17. Juni 2019

«Die vereinte Linke – nie wird sie besiegt werden!», skandieren die demonstrierenden Chilen_innen 1970 in den Strassen. Als der frisch gewählte Salvador Allende gemeinsam mit dem sichtlich gerührten Dichter Pablo Neruda vor die Massen tritt, rufen sie: «Neruda, Neruda, el pueblo te saluda!» Es war, wie mit offenen Augen zu träumen, meint Zeitzeugin Carmen Castillo über jene Jahre der Unidad popular, jenes Wahlbündnis linker Parteien, das Salvador Allende – als einzigen Sozialisten und Marxisten weltweit – in einer Volkswahl zum Präsidenten erhob. Euphorie herrschte im Land. Aufbruch. Der Glauben an eine bessere Welt. Unverzüglich nahm Allende vieles an die Hand, um die Lebensbedingungen der Mehrheit im Land zu verbessern. Doch nicht lange, und er wurde von den konservativen Kräften hintertrieben, im Verbund mit der CIA kam es zum Putsch von Militär und Polizei, der Allende Amt und Leben kostete. General Augusto Pinochet übernahm 1973 die Macht und regierte bis 1990 mit eiserner Faust. Bereits in den Folgetagen des Putschs liess er Anhänger_innen der Linken verhaften, foltern, entführen, töten.

Santiago, Italia ist der erste Dokumentarfilm Nanni Morettis in seiner bislang zwölf Spielfilme umfassenden Filmografie – sein letzter: der grossartige Mia madre (2015). Auf das Thema gestossen sei er, wie Moretti in einem Interview sagt, durch Zufall bei einem Besuch 2017 in Santiago und beim dort ansässigen italie­nischen Botschafter. Dabei sei er in Kontakt gebracht worden mit ehemaligen Dissident_innen – und Erinnerungen an seine Jugend seien wach geworden: Anfang der Siebzigerjahre war die Zeit seiner eigenen Politisierung an der Universität, der bald seine ersten Filme folgten: Io sono un autarchico (1976), Ecce Bombo (1978), Sogni d’oro (1981). Chile war eine wichtige Referenz für die linke Studenten- und Arbeiterbewegung in den Siebzigerjahren. Und Italien bekundete offen Solidarität für die linke Regierung und die unter Pinochet Verfolgten.

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Jene Dissident_innen spielen die Hauptrolle in Morettis Santiago, Italia: Vierzig Stunden Interviews hat der Filmemacher gesammelt und mit Archivmaterial angereichert. Die Zeitzeug_innen, die zu Wort kommen, sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten – vom Diplomaten über die Journalistin, den Übersetzer, den Unternehmer bis zum Arbeiter. Die wenigsten können ihre innere Bewegung verbergen, wenn sie von jener Zeit erzählen. Für alle waren es wichtige, unwiederbringliche Jahre. Viele mussten in der Folge das Vaterland verlassen und fanden in Italien Asyl. Denn: Nicht nur die dortige katholische Kirche setzte sich für die Menschen und gegen die Übergriffe des Putschregimes ein, auch die italienische Botschaft war für viele Verfolgte ein sicherer Hafen und eine Möglichkeit, dem Terrorregime zu entfliehen.

All das passt wunderbar zu Moretti, der in seinen Spielfilmen ja immer wieder als Mahner, als Verteidiger der Humanität, als personifiziertes Gewissen der Arbeiterbewegung auftritt (Palombella rossa, 1989). Und der immer auch die Kirche als moralische Instanz in die Verantwortung miteinbezieht (La messa è finita, 1985, Habemus papam, 2011), wenn es darum geht, der gesellschaftlichen Situation in Italien den Puls zu fühlen. In Santiago, Italia hört man nun zwar seine Stimme als Interviewer, der beharrlich nachfragt, er selbst tritt aber nur einmal ins Bild: Als er einen Militär befragt, der festhält, man habe ihm ein unparteiisches Gespräch zugesichert, macht er klar: «Ich bin nicht unparteiisch!»

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So bleibt sich Moretti treu. Und natürlich wäre er nicht Moretti, wenn er sich nur zum Chronisten einer vergangenen Zeit machen würde: Das Italien der Siebzigerjahre, daran liegt ihm, war – nebst den vom Terrorismus geprägten «anni di piombo» – ein politisiertes, aufgeschlossenes Italien, dessen Gesellschaft von humanitärem Engagement geprägt war – was wiederum die aus Chile Geflüchteten bestätigen: Man nahm sich ab dem ersten Tag ihrer an, gab ihnen Arbeit und Unterkunft, wollte ihre Geschichte hören, hielt sie auf offener Strasse an, um zu erfahren, wie es um Chile stand.

Wie anders das Italien heute: Unter der populistischen Regierung mit dem Innenminister Matteo ­Salvini (Lega Nord), der unverhüllt mit dem Faschismus kokettiert, und einer Bevölkerung, deren Entpolitisierung schon unter Silvio Berlusconi begann, die alles abzunicken scheint, was dem eigenen Profit zuträglich ist, und die das Flüchtlingsthema am liebsten ignoriert. So schliesst Moretti den Kreis, indem er vom Italien damals spricht und implizit das heutige kritisiert, das nicht weit weg von einer politischen Diktatur ist, wie sie in Chile vor rund fünfzig Jahren an die Macht geputscht wurde.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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