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Tripoli 4

Tripoli Cancelled

In Tripoli Cancelled von Naeem Mohaiemen streift ein älterer Herr seit gut 3700 Tagen allein durch einen verlassenen Flughafen in der Nähe von Athen. Der Film handelt vom Menschsein.

Text: Melissa Varela / 23. Juli 2018

In Tripoli Cancelled von Naeem Mohaiemen streift ein älterer Herr seit gut 3700 Tagen allein durch einen verlassenen Flughafen in der Nähe von Athen. Der Film handelt vom «Menschsein – oder eben nicht». Gezeigt werden einzelne Tagesabläufe und verschiedene Rituale, die er während einsamen Zeit im Flughafen entwickelt hat. So begleitet die Kamera den Protagonisten eine Woche lang bei seinen täglichen Spaziergängen, Mahlzeiten und anderem Zeitvertrieb. Was allerdings fehlt, ist jegliche Information über die Ursache seines Aufenthaltes und wie lange er noch vorhat, dort zu bleiben. Erst aus dem Abspann erfährt der Zuschauer, dass der Film Inspiration fand im Leben des Vaters von Mohaiemen.

Der Film ist gezeichnet von farblich stimmungsvollen Bildern – gehalten in verwaschenen Farben –, die dem Werk und dem Schauspieler Zeit geben, sich zu entfalten. Die Kamera hat nicht Angst, in langen Einstellungen zu verharren, sie zeigt Handlungen teilweise in voller Länge. So erleben wir einige Minuten lang, wie der Protagonist zu einem Lied tanzt, bis das Lied beendet ist. Die Kamera lebt mit dem Protagonisten, und wir durchleben, was er durchlebt.

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Auch wennVassilis Koukalani der einzige Schauspieler des Films ist, ist seine Figur nie ganz allein. Einerseits dient ihm die Kamera als ständiger Begleiter; so folgt sie dem Mann oft durch die langen Gänge des Flughafens; andererseits dient sie ihm auch als wörtlicher oder metaphorischer Spiegel: Zum Beispiel öffnet der Film mit dem Mann, wie er auf einem Stuhl sitztend direkt in die Kamera schaut und sich dabei seinen Bart abrasiert. Der Blick in die Kamera durchbricht aber keine vierte Wand, er ertappt keinen Zuschauer am anderen Ende der Kameralinse. Der Protagonist schaut vielmehr in den Spiegel und betrachtet sich selbst, sodass eine Art Umkehrung entsteht, in der er aus der Position eines anderen auf seinen eigenen Körper blickt. Diese Spiegelung, die wörtliche Reflexion, findet sich in vielen Aspekten des Filmes wieder. So reflektiert der Flughafen auch die Gedankengänge des Helden und ist als Allegorie seines Verstands zu sehen.

Zum einen sind die Gänge und die vielen Schauplätze, egal wie gross sie auch sein mögen, immer an ihre räumlichen und rationalen Dimensionen gebunden; sie bilden den Verstand des Protagonisten, durch die er sich stetig schlängelt; er befindet sich auf geordnetem Boden, läuft über Schachbrettmuster vorbei an geometrischen Wandverkleidungen, bis hin zu weiten, klaren architektonischen Aufteilungen. Zum anderen sind die Einstellungen des Films von grossen Fenstern geprägt, die die Räume schmücken. Sie erhellen sie nicht nur: Die grossen Glasscheiben erweitern den Geist nach aussen und geben neue Luft zum Atmen. Sie bieten einen Blick auf die Aussenwelt, die der Protagonist betritt und in der er seiner Fantasie freien Lauf lässt. Inmitten ausrangierter Flugzeuge erschafft er sich eine Welt, die fern jeglicher Rationalität liegt. Ein Spielplatz für die Seele, gleich vor den Toren des Flughafengebäudes, inmitten von Jugendträumen und Pilotenwünschen. Der einsame Herr schreibt sich im leeren Flughafen seine eigene Geschichte.

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Das von ihm entwickelte Narrativ wird unterstützt von Briefen an eine Geliebte und verschiedenen Texten, die aus dem Off gesprochen werden. Er sitzt im Kontrollturm, lotst unsichtbare Flugzeuge, spielt Kriegspilot im zerstörten Cockpit und nähert sich vorsichtig, fast schon scheu, einer leblosen Schaufensterpuppe an. Seine Welt mag verrückt wirken, besitzt jedoch durchaus Legitimität: Völlig unabhängig von den Ideen anderer, lebt er vor sich hin und es wird klar, dass sich die Grenze zwischen Realität und kindlicher Vorstellungskraft nicht so leicht ziehen lässt.

Die Bilder innerhalb des Flughafens werden dunkler, und immer mehr Schutt liegt am Boden; der Verstand bröckelt. Ein wichtiger Punkt in der Verschmelzung von Fantasie und Verstand bietet dabei das verzweifelte Telefonat mit einer Dame von der Auskunft: aufgewühlt versucht der Protagonist, seine Frau zu erreichen, doch sie nimmt den Anruf nicht an. Erst gegen Ende des Telefonats wird klar, dass der Hörer gar nicht verbunden ist und dieses Gespräch nur imaginiert war. Doch um das geht es nicht. Im flughafenförmigen Grundriss seines Geistes ist alles und nichts wirklich gleich. Entscheidend ist, wie er es selbst sieht. Die Kraft des Geistes scheint dem Protagonisten von Anfang an bewusst zu sein. So spricht er von den «Muselmännern» in Konzentrationslagern und argumentiert, dass sie zu Muselmännern wurden, weil sie aufgegeben haben. Hätten sie an eine Rettung geglaubt, diese Einstellung als Realität gehalten, hätten sie vielleicht überlebt. Seine kindlichen Spiele werden zum notwendigen Instrument des Überlebens.

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Obwohl der Film aus sehr schön komponierten Bilderreihen besteht, die ihm eine speziell melancholische Ästhetik geben, wurde das emotionale Potential oft nicht ausgeschöpft und einzelnen Szenen sind etwas repetitiv. Genauso wie der zerstörte Flughafen ein ansprechendes Gerüst für die Geschichte bietet, liefert das kafkaeske Szenario einen guten Grund für eine vielschichtige Figur, der es jedoch letztendlich an Fülle fehlt. Somit sind nicht nur die Flugzeuge in Tripoli Cancelled am Boden geblieben, sondern es ist auch der Geschichte nicht wirklich gelungen abzuheben.

Melissa Varela ist der Gewinnerin eines Wettbewerbs im Rahmen unseres Kritikworkshops am Bildrausch Filmfest, Basel 2018.

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