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22 Bahnen
© Constantin Film Verleih GmbH / Praesens-Film AG

Sprung ins Kühle: 22 Bahnen

Der Film schwimmt in denselben melancholischen Gewässern wie seine Romanvorlage – und lässt uns, gewollt, den Boden unter den Füssen verlieren.

Text: Jesper Rusterholz / 03. Sep. 2025
  • Regie

    Mia Maariel Meyer

  • Buch

    Elena Hell, Caroline Wahl

  • Kamera

    Tim Kuhn

  • Schnitt

    Jamin Benazzouz

  • Musik

    Dascha Dauenhauer

  • Mit

    Jannis Niewöhner, Luna Wedler, Sabrina Schieder, Laura Tonke, Zoë Baier

  • Start

    4. September 2025

Im Sommer 2023 lag dieses Buch auf gefühlt allen bunten Badetüchern: «22 Bahnen» von Caroline Wahl. Statistisch eigentlich fast unmöglich, tauchten fast eine Million Leser:innen in den Debütroman ein, während «Windstärke 17», die Nachfolge aus 2024, direkt vom Startblock auf Platz 1 der Bestsellerlisten sprang. Kein Wunder also, dass diese Erfolgsgeschichte unabhängiger Buchhandlungen nun die nächste Welle schlägt, und zwar auf der Kinoleinwand.

22 Bahnen handelt, wie die Buchvorlage, von Tilda (Luna Wedler), die mit ihrer Mutter Andrea (Laura Tonke) und ihrer jüngeren Halbschwester Ida (Zoë Baier) in einer Kleinstadt lebt, ausgerechnet an der wenig heiteren Fröhlichstrasse. Um den Familienunterhalt zu sichern, arbeitet sie neben ihrem Mathematikstudium an einer Supermarktkasse. Doch die Unberechenbarkeit ihrer alkoholabhängigen Mutter nimmt das Leben von Tilda und Ida vollständig ein. Nur die Routinen und die innige Schwesternliebe halten das Wasser unterm Siedepunkt.

Täglich versucht Tilda, zu verhindern, dass der selbstzerstörerische Drang ihrer Mutter endgültig eskaliert. Als ein Professor ihr unerwartet eine Promotionsstelle in Berlin anbietet, wird ihr scheinbar ein Rettungsring zugeworfen. Stattdessen kommt ein Dilemma auf: Sollte Tilda nach Berlin in eine möglicherweise bessere Zukunft ziehen, würde sie Ida mit ihrer Mutter alleine lassen. Bleibt sie da, droht sie, in der zermürbenden Verantwortung unterzugehen.

Auch wenn die Prämisse den Eindruck einer uninspirierten Coming-of-Age-Geschichte erwecken mag: Recycelte Narrative um Familienkonflikte und Abhängigkeiten, um Sehnsucht und Liebe, ums Erwachsenwerden und Emanzipation werden wenig stereotyp erzählt. Auch im Film: Durch die klare Handschrift von Regisseurin Mia Maariel Meyer und die geschickte Adaption von Drehbuchautorin Elena Hell erweist sich 22 Bahnen als sensible, selbstbewusste Aktualisierung. Ihre Literaturadaption ist keine blosse Interpretation des Texts, sondern kreiert ein Ineinandergreifen der Medien.

22 BAHNEN Still 03 Constantin Film Verleih Gmb H

© Constantin Film Verleih GmbH/Praesens-Film AG

Der Film bedient sich seiner Blaupause, übernimmt die Eigenheiten: So setzt die erzählende Ich-Perspektive der Buchvorlage auch in 22 Bahnen – hier als Voiceover – gleich zu Beginn ein. Tildas Beobachtungen, ihre Aufzählungen der von ihr gescannten Supermarkt-Produkte, unterlegen als Erzählung das Bild. Auch die wichtigen Ereignisse verbleiben mehr oder weniger in ursprünglicher Reihenfolge, selbst die mosaikhaften Rückblenden des Romans finden sich im Film. Doch damit enden die Parallelen; 22 Bahnen ist sich der formalen Grenzen des Mediums bewusst.

Diejenigen, die das Buch gelesen haben, wissen, dass Wahls Schreibstil alles andere als trivial ist. Die Sätze sind stoisch, kurz und durch Aneinanderreihungen dicht konstruiert. Direkte Reden stehen ohne Gänsefüsschen, die Umgebung wird oft nur sparsam beschrieben. Das Buch fokussiert sich auf die Figuren – auf das langsame Hervortreten ihrer Emotionen, auf ihre folgenschweren Handlungen –, anstatt seitenlanges, episches Worldbuilding zu sein. Die Leseerfahrung ist einzigartig, weil der Text mühelos fliesst und nicht erlaubt, auf Distanz zu gehen, aber auch nicht überfordert.

Im Film sind es Bildkompositionen, die Kameraführung und Montage, die das je ne sais quoi des Romans ausbauen und aktualisieren. Rot und Blau in den Kostümen und der Mise en Scène bebildern nicht nur die Beschriebe im Roman. Wenn Tilda in tiefroter Uniform im Supermarkt an der Kasse Wahrscheinlichkeiten kalkuliert, wird sie zum visuellen Gravitationspunkt; ins Bild übersetzt sich damit die zuvor schriftlich vermittelte Leichtigkeit und Verspieltheit.

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Innige Schwesternbeziehung, exzessive Farben: 22 Bahnen / © Constantin Film Verleih GmbH/Praesens-Film AG

An den Farben zeigt sich auch Tildas innere Ordnung. Ist das Bild blau gefärbt – etwa, wenn sie nach Hause zurückkehrt –, kippt auch die Stimmung in einen rationalen Überlebensmodus. Brutal verdeutlicht sich dann das chaotische Ökosystem, in dem sich Tilda und ihre Schwester befinden. Eine Symptomatik des volatilen Alltagslebens wird zur doppelten Ästhetisierung: ein ineinandergelegter, hybrider space. Der Film repräsentiert das, was im Buch nicht explizit ausgesprochen ist – und umgekehrt.

Ja, logisch, Beschreibungen und selbstreflexive Äusserungen lassen sich nicht plump ins Voiceover übertragen. 22 Bahnen nutzt seine Medialität, um die Subtilitäten von Tildas Erwachsenwerden aus den feinen Nuancen des Originaltexts zu übertragen – und zu verstehen. Harte Schnitte, fast wie Erinnerungstrigger, hin zu Schwestern- und Kindheitsbildern, etwa verhindern, dass Tilda während eines white girl dance einem abgenutzten Coming-of-Age-Topos zum Opfer fällt. Plötzliche Verlagerungen der Tiefenschärfen stülpen zusätzlich etwas um, dynamisieren die erzählte Zeit.

Selbst wenn die extradiegetische Musik immer wieder ein- und ausblendet, übersetzt sich in 22 Bahnen eine Komplexität des Geschriebenen: Auch Tilda ist inkonsistent. Ihre gespaltene Kind-Mutter-Rolle ist das Ergebnis unverarbeiteter Traumata, festgefahrener sozialer Strukturen und unausgesprochener Spannungen. Die Inszenierung gelingt nicht zuletzt auch dank der brillanten Performance Luna Wedlers, die an eine Sandra Hüller erinnert und hoffentlich bald in Hauptrollen in internationalen Projekten glänzen darf.

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Luna Wedler, Laura Tonke und Zoë Baier in 22 Bahnen / © Constantin Film Verleih GmbH/Praesens-Film AG

Caroline Wahl schrieb ihren Roman während einer eher zermürbenden Zeit in Zürich, als sie beim Diogenes Verlag als Verlagsassistentin arbeitete. «22 Bahnen» liest sich vielleicht auch darum wie eine präzise Feldstudie, wie eine Analyse ohne Pathologisierung. Dass der Film nun das, was im Buch zwischen ihren Zeilen wabert, in den Vordergrund rückt, könnte man als mutigen Entscheid sehen – zumal das nimmersatte, alles kritisierende Publikum gern schreit: «Das war im Buch aber anders!» Aber kein Text ist ein feststehendes, unveränderliches Werk: Verfilmungen sind Verformungen. 22 Bahnen versucht, zu eigenen Ufern zu schwimmen – und schafft es auch.

22 Bahnen möchte ich gerne all jenen ans Herz legen, die Fans von Benedict Wells’ «Vom Ende der Einsamkeit», Oyinkan Braithwaites «My Sister, the Serial Killer», Jeannette Walls’ «The Glass Castle» oder Jennette McCurdys «I’m Glad My Mom Died» sind. Ebenso den Liebhaber:innen zeitgenössischer Literaturadaptionen wie Nick Cassavetes’ My Sister’s Keeper (2009), Shawn Levys This Is Where I Leave You (2014), Greta Gerwigs Little Women (2019) oder Catherine Magees Normal People (2020). Und auch wer sich gern in die Geschwisterbeziehung in Azazel Jacobs’ His Three Daughters (2023) oder in Eva Victors kürzlich erschienenen Sorry, Baby (2025) hineingefühlt hat, sollte an diesem Film seine oder ihre Freude haben!

 

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